Kapitel 37

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Ein fester Schlag ins Gesicht reißt mich aus meinen Gedanken. "Du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede.", meint er feindselig und betrachtet mich abschätzig. Schmerz durchfährt meine Wange und eine wahrscheinlich rötliche, pochende Stelle bleibt zurück. Schmerzvoll schließe ich meine Augen, bis ich wieder das Adrenalin in meinen Adern spüre. Und plötzlich erfasst mich ein besonderer Lebensmut. Leider weiß ich auch, dass diese Idee völlig nach hinten losgehen kann, aber ein Versuch ist es wert. Statt ihn anzuschauen, starre ich gedankenverloren auf das Mädchen. Sie schreibt gerade an ihrem Text weiter. "Sie muss 363 Wörter schreiben, richtig?", lautet meine Frage. Eine kräftige Hand auf meiner Schulter seine Antwort. "Du sollst-", der kalte Lufthauch vermittelt mir, dass er gerade wieder zuschlagen will.

Mein Blick wandert zu seiner Hose. Das Messer befindet sich an einer losen Lasche befestigt an seinem Gürtel. Spreizend richte ich meine Finger in seine Richtung. Dann entsteht die überaus schwierige Situation. Es sind nur ein paar Sekunden, aber mir kommen sie wie Minuten vor. Meine Fessel habe ich schon vorher so gelockert, dass ich meinen schmerzenden Arm etwas bewegen kann. Nervös blicke ich auf sein Tun. Er macht einen großen Schritt. Sein linkes Bein stellt er geradewegs vor meinem rechten Fuß ab, sodass sein Gürtel neben meiner Hand liegt und ich somit direkt auf das Messer zugreifen kann.

Gierig schnappen meine gespreizten Finger nach dem Messer. Wie in Zeitlupe umfasst meine Hand den Griff der Waffe und zieht daran. Der Knoten ist glücklicherweise nicht so fest zusammengezogen, also kann ich auch ihn unglaublich leicht lösen. Im nächsten Moment halte ich das blutverschmierte Messer in meiner rechten Hand. Lufthauch. Er holt aus. Und in dem Moment, in dem er zuschlagen will, drehe ich die Klinge in Richtung meines Ellenbogens, um die Fessel durchzuschneiden. So einfach kann es nicht sein. Nun liegt meine Hand frei, allerdings dreht sich mein Magen, wegen den Anblick der tiefen Wunde, um. Auseinandergeklaffte Haut lässt meine Sicht verschwimmen und der Schmerz keimt sich in meinem Arm auf.

Ziehender Schmerz an meiner linken Wange. "...mich ansehen, wenn ich mit dir rede", flüstert er feindselig. Ein lauthalser Schrei übertönt seine Worte. Mein schmerzerfüllter und doch so leerer Schrei. Mit tränenüberströmtem Gesicht mustere ich ihn. Er schaut gerade weg, weswegen ich meine Chance ergreife und das Messer mit meiner zittrigen Hand zu der linken Fessel führe. Innerhalb weniger Sekunden liegt auch dieser Arm frei. Ohne mich eines Blickes zu würdigen schreitet er stumm zu der Glasscheibe und scheint das Mädchen zu beobachten. Ich bin ganz in meinem Element. Leise, aber schnell versuche ich aufzustehen und freue mich im nächsten Moment darüber, es geschafft zu haben.

Bestimmt hebe ich das Messer, allerdings kann ich es nicht gerade halten, weshalb sich meine andere Hand um das Handgelenk legt und dabei hilft, die zittrigen und zuckenden Bewegungen zu mildern. Letztendlich gelingt es mir glücklicherweise. Nun befindet sich der Master zwei oder drei Schritte vor mir. Keine falsche Bewegung, sonst bin ich aufgeflogen. Leider bleibt mir die Sicht zum anderen Mädchen versperrt, ich kann ihre Reaktion nicht sehen, aber verräterisch wird sie hoffentlich nicht sein.

Ein kleiner Rinnsal Blut fließt über die Klinge bis zur Spitze und sammelt dort mehr dieser roten Flüssigkeit, um einen Tropfen zu bilden, der sich danach direkt über meinem Kopf von der Klinge löst und dann wie in Zeitlupe auf den Boden fällt. Mein Blick verfolgt ihn innig. Wie er auf den grauen Beton schlägt, in mehrere kleine Teile zerspringt und in einem bestimmten Radius ganz kleine rote Tröpfchen hinterlässt. Meine Augen lassen von ihm ab und starren, gebannt von meiner Idee, gerade nach vorne in den Nacken des Masters. Schwung nehmen und reinrammen. Doch seine Worte zwingen mich zum Zusammensinken.

Ich, die AuserwählteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt