Kapitel 29

62 2 0
                                    

Zitternd und bibbernd hocke ich nun vor dem Tisch, unterdrücke die aufkommenden Tränen, indem ich mehrere Male blinzle und richte meinen Blick auf die Akte '1988'. Angst keimt sich in mir, aber trotzdem führe ich meine rechte Hand zur Mappe hin, um sie freizulegen und zu betrachten. Tränen steigen in meine Augen bei den Gedanken, dass ich genau so enden kann, wie die Auserwählten vor mir. Mein Blickfeld verschwommen, öffne ich die Akte und nehme einen tiefen Atemzug. Meine Augen huschen über den zittrig geschriebenen Text und versuchen die einigermaßen saubere Schrift zu entziffern.

Die Wörter erschüttern mich und das flaumige Gefühl rund um meine Magengegend bildet sich erneut. Beim Lesen des kurzen Textes klopft mein Herz taktlos und viel zu schnell gegen meinen Brustkorb, der sich unregelmäßig hebt und senkt. Unmöglich, was der Master uns Jugendlichen antut. Das Zittern des Zettels holt mich aus meinen negativen Gedanken heraus, durch das Schütteln meines Kopfes erlange ich eine ziemlich klare Sicht und kann somit die Photos betrachten.

Der Zettel fällt hinunter, damit sich meine Hände neue Blätter beziehungsweise Photos schnappen können und sofort umspielt ein Lächeln meine Lippen, als ich den ersten Schnappschuss erblicke. Ein kräftig aussehender Junge grinst schief in die Kamera, während er neben seinem ebenfalls glücklich aussehenden Hund hockt. Es befinden sich noch vier Photos in meiner Hand, allerdings steht auf dem einen Zettel etwas über Schlachtung und das will ich mir eigentlich sparen.

Trotz allem schaue ich mir das zweite Photo an. Der Junge kniet auf dem Boden, seine blauen Augen glänzen voller Trauer und Hoffnungslosigkeit. Beim zweiten Blick erkenne ich, dass seine Hände gefesselt sein müssen, denn sie sind hinter seinem Rücken verschränkt. Außerdem wurde ihm sein rechtes Ohr entwendet und sein von Schmerz geöffneter Mund zeigt mir, dass ihm einige Zähne fehlen und Blut seine von Kälte blau gefärbten Lippen halb rot tränken. Tief einatmend und zitternd sehe ich mir das dritte Bild an. Sofort schließe ich meine Augen, aber das eben Gesehene bleibt wahrscheinlich für immer in meinem Kopf.

Ein blutverschmiertes Gesicht, seine Gedärme liegen gestapelt neben ihm, sein Rumpf ist meilenweit geöffnet, sodass man die gebrochenen, leuchtenden Rippen erkennen kann, sein Herz liegt von einer Rippe erstochen rechts neben seinem Kopf und seine Augen starren leer und glanzlos in die Kameralinse. Das rosa Fleisch liegt wie durchgerührt an dem Platz, wo der neben ihm liegende Darm ursprünglich war, seine Kleidung sitzt nicht mehr an ihm, allerdings kann man kaum etwas erkennen, da sich das rote Blut überall auf seinem Körper verteilt hatte und sein Körper ebenfalls in einer scheinbar riesigen Blutlache liegt.

Ein Würgereiz bildet sich in mir, schnell ließ ich die Photos auf den Tisch liegen, damit ich meine Hände vor den Mund legen kann, um mich nicht meinen Mageninhalt zu entledigen. Hastig laufe ich ein paar Meter weiter und übergebe mich in die Dunkelheit. Schützend stütze ich mich mit meinen Händen am Boden ab, aber schon nach ein paar Sekunden spüre ich das klumpige und stinkende Erbrochene unter meinen Fingern, weshalb ich sie angewiedert wegziehe und versuche, das übelriechende Zeug am Boden abzuwischen. Das Photo überkommt mich erneut, doch diesmal kann ich mich nicht mehr übergeben, weil mein Magen scheinbar leer ist.

"Ihr könnt mich mal.", meine Stimme klingt kratzig und schwach, aber wenn mich jemand beobachtet, würde er die leisen Wörter trotzdem verstehen.

Ich, die AuserwählteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt