Das Telefon steht immer noch in der Eingangshalle, weshalb ich durch das Wohnzimmer ins Esszimmer blicken kann, um meine restliche Familie zu beobachten. Sie wirken nicht so, als wäre gerade ein Brot vor ihnen herumgeflogen. Lautes Lachen unterbricht meine Beobachtungen und ich wende meinen Kopf zu meiner Mutter, die sich vor Lachen den Bauch hielt. "Danke für die Auskunft. Ich freue mich.", schallt ihre glückliche Stimme durch die sehr leere Eingangshalle und erzeugt ein kleines, aber kaum zu überhörende Echo. Was hat sie bitteschön erfahren, dass sie so glücklich ist?
Ihre Beine tragen sie, nachdem sie aufgelegt hatte, zurück ins Esszimmer, wo sie sich hinsetzt und die restlichen am Tisch sitzenden lächelnd anschaut. So glücklich habe ich sie noch nie gesehen. Egal, was sie gerade erfahren hat, ich werde es leider nie mit ihr teilen können und mit ihr glücklich sein. Dazu ist es zu spät. Ein weiteres Mal mustere ich sie. Sie strahlt von einem Ohr zum anderen. Tief einatmend öffnet sie ihren Mund, um etwas zu sagen, doch nur ein schrilles Lachen kommt hervor. Das ist sehr seltsam. "Ich..", beginnt sie, unterbricht sich aber dann wieder mit ihrem Lachen.
Mein Bruder schaut sie vielversprechend an. "Ist es das, was ich denke?", auch er lächelt. Sie nickt. Neugierig hebt mein Vater seinen Kopf und zieht eine Augenbraue hoch, während er seinen Teller mit dem meines Bruders stapelt und aufstehen will. Mittlerweile hat sich das Gelächter verschlimmert und nach einer Zeit lasse ich mich anstecken und lächle ebenfalls. Ich bin froh, dass sie Spaß haben. Zwei Schritte, bis er die Küche erreicht, zwei Schritte, bis er wieder auf seinem Platz sitzt und meine Mutter erwartungsvoll mustert.
"Geht es um ihn?", seine tiefe, einem Bass gleichende Stimme lässt mich ihn anschauen. Ein Lächeln schleicht sich auf seine Lippen und sein sonst so emotionsloses Gesicht strahlt vor purer Freude. Ein angespanntes Gefühl bildet sich in mir, ich hatte ihn noch nie lächeln oder gar lachen gesehen. Trotzdem freue ich mich darüber, meine Familie so glücklich zu sehen, obwohl ich nicht dabei bin. Theoretisch stehe ich neben ihnen, allerdings bin ich in der spirituellen Ebene auf der Welt, sie in der menschlichen. Ich sehe sie, sie sehen mich nicht.
Diesmal steht mein Bruder auf, um das Besteck in den Abwasch zu bringen. Zwei Schritte, bis er die Küche erreicht, zwei Schritte bis er wieder auf seinem Platz sitzt. Das dauert nicht einmal eine halbe Minute und sie alle brauchen nur zwei relativ große Schritte. Langsam wird mir mulmig zumute und ich habe wieder den nicht zu unterdrückenden Drang dazu, auf mich aufmerksam zu machen, allerdings steht nur noch die Lieblingsvase meiner Mutter auf dem bereits leeren Esszimmertisch. Egal. Mein Blick fällt auf eine Rose in der Vase. Ich habe sie mir vor wenigen Wochen beim Blumenhändler ausgesucht, weil sie die einzige schwarze Rose in allen Blumenläden der Umgebung war. Ich liebe schwarze Rosen.
Meine Konzentration richtet sich auf die wunderschöne Rose und schon wieder blendet sich alles um mich herum aus. Die Stimmen klingen dumpfer, das Lachen klingt leise und kilometerweit entfernt, trotzdem lasse ich meine Gedanken weit weg von meinem Kopf, damit ich nicht aus meiner Rolle schlüpfe und möglicherweise die Rose aus den Augen verliere. Wie bei den letzten Malen fühle ich mich auch jetzt angespannt und das kleine Kribbeln bildet sich wieder in meinem Bauch. Ich starre nur die schwarze Blume an. Die Stimmen und das Gelächter werden leiser, bevor sie ganz verschwinden. Meditation. Nichts dringt mehr zu mir. Bis ich die Worte meiner Mutter höre.

DU LIEST GERADE
Ich, die Auserwählte
Mystery / ThrillerIch bin geschockt, als ich aufwache und mich selber blutend am Boden liegen sehe. Ich sehe mich sterben und stürze daraufhin in ein gefährliches Abenteuer, das mich leiden und mehrmals verzweifeln lässt.