Kapitel 9

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Zögerlich strecke ich meinen Kopf durch die Tür, als ich eine mir vertraute Stimme vernehme. Mein Bruder. Der Gedanke daran, dass er bald erfährt, ich sei tot, lässt mich erzittern. Ich hatte nie Angst vor dem Tod, aber ich habe Angst um die Menschen, die erfahren, dass ich gestorben bin. So eine Situation ist einfach schrecklich. Nicht mit meinen schnellsten Bewegungen setze ich einen Fuß in das am Wohnzimmer anliegende Esszimmer. Ein Lachen durchhallt den Raum. Eindeutig meine Mutter. Sie lacht bei den unlustigsten Witzen so laut auf, dass man sie am liebsten aus dem Raum werfen will. Aber das liebe ich an ihr. Sie macht die traurigen Situationen lustig.

Mein Vater sitzt ohne jegliche Emotionen im Gesicht am Tisch und isst Lachs mit Erdäpfelpürree und einem Salat, bestehend aus Paradeiser und Eisbergsalat, eine Art des Lactuca Sativa*. Ohne irgendwelche Worte zu verlieren isst er. Schon seit dem ich klein war hat er mir gezeigt, was gut und was schlecht für die Ernährung ist. Zwar durfte ich ich das essen, worauf ich Lust hatte, aber dennoch achtete ich auf meine Gesundheit. Ich wollte früher nicht mit 20 an einem Herzinfarkt sterben. Trotzdem bin ich schon tot.

Mein rechter Fuß zieht meinen Körper durch den Durchgang und nun stehe ich im Esszimmer. Vor mir, lachend und glücklich, meine Familie. Ob sie spüren können, dass irgendetwas fehlt? Ihrer Glücklichkeit wegen bezweifle ich diesen sechsten Sinn. Trotzdem verspüre ich den Drang, auf mich aufmerksam zu machen. Der vierte Platz am Tisch ist leer. Dennoch steht Besteck darauf. Sie haben es für mich hergerichtet, aber das einzige, was sie von mir erfahren, ist, dass ich tot bin. Erstochen. Meine Augen wandern über den Tisch, bis etwas gold-braunes in mein Blickfeld kommt. Ein Brötchen. Meine ganze Konzentration auf das Brötchen richtend, bemerke ich nicht, dass meine Mutter eine Frage über mich stellt.

"Hat wahrscheinlich ein Rendezvous. Du kennst sie." Die Antwort meines Bruders lässt mich aufhorchen. Er hat das Wort konjungiert, welches auf meiner Hassliste steht. 'Kennen'. Und natürlich weiß er, dass ich dieses Wort abscheulich finde. 'Kennen'. Als könnte man jemanden kennen. Insbesondere mich. Niemand kennt mich. Nichtmal ich. Meine Gedanken überschlagen sich so oft in meinem Kopf, dass ich den Faden verliere und erstmal alles sortieren muss. Kennen. Niemand kann jemanden kennen. Es gibt immer irgendwelche Geheimnisse, welche man nicht erfahren soll. Ich habe diese Geheimnisse, mein Bruder hat bestimmt auch solche Geheimnisse, jeder Mensch hat diese Art von Geheimnissen.

"Sie wollte aber um 6 hier sein.", meint meine Mutter resigniert. Sie macht sich große Sorgen um mich, das höre ich aus ihrer Stimme heraus. Während mein Vater emotionslos auf seinen halbleeren Teller schaut, steht meine Mutter schon auf, um ihr dreckiges Geschirr in den Abwasch zu legen. Zwei Schritte geht sie, um die Küche zu erreichen, zwei Schritte braucht sie, um wieder zurückzukommen. Aus Höflichkeit setzt sie sich auf ihren Platz und betrachtet das Brötchen, das ich gerade zum Bewegen bringen wollte.

Mein Blick bleibt bei dem Essensstück hängen, meine Gedanken ziehen sich zurück und voller Wut starre ich das Gebäck an. Das lange Warten fällt aus. Ich spüre die Anspannung und das aufregende Kribbeln im Bauch, als sich das Brot erhebt. Allerdings, wie ich jetzt herausstelle, sind die Bewegungen der Gegenstände, die ich bewegen will, eine Wiederspiegelung meiner Gefühle. Ruppig und hantig schwebt das Brot in der Luft. Leider kann ich die Reaktion meiner Familie nicht sehen, aber als ich ein mir vertraut vorkommendes Geräusch höre, bricht meine Konzentration auseinander und das Gebäck fällt zurück auf den Tisch. Die erstaunten Gesichter verwundern mich ein bisschen, aber trotzdem lasse ich mich nicht beirren und gehe meiner Mutter hinterher, die gerade erstaunt über das Spentakel fast über ihre Füße stolpert, um zum klingelnden Telefon zu kommen. Ohne zu zögern hebt sie ab.

*Lactuca Sativa ist so viel wie Gartensalat.

Ich, die AuserwählteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt