Ohne meinen Blick von den Augen des Skeletts abzuwenden, stehe ich auf und fühle die Leere in meiner rechten Hand. Der Zweihänder. Er wurde mir entwendet. Als ich jedoch eine kleine, beruhigende Erschütterung in meiner Magengegend spüre, bemerke ich, wo das Knurren entstand. Sofort verlangsamte sich mein Puls und das Zittern meiner Hand reguliert sich wieder. Eine vertraute Stimmung verbreitet sich in meinem Körper, obwohl sich in meiner Umgebung mehr als hundert an die Wand genagelte Leichen befinden.
Das erste Mal, seitdem ich in diesem Raum bin, kann ich ihn endlich mustern. Er wirkt sehr groß durch den Mangel an Dekorationen und Möbel, lediglich die Knochen an den Wänden vermitteln eine dekorative Ansicht. Skeptisch schaue ich mir die Wände und den Boden an. Verblichene Spuren von Blut und anderen körperlichen Flüssigkeiten oder Erbrochenem zieren die dunklen Nischen oder Ecken in dieser Halle. Einige Meter weiter rechts von mir befindet sich ein mit weißer Farbe gemalter Kreis, in dem sich ein frischerer, aber dennoch schon rotbraune, Hauch von der blutroten Körperflüssigkeit findet.
Wieder knurrt mein Magen, doch nicht wegen Essensentzug sondern aufgrund der aufkommenden Übelkeit. Ein langgezogener Schmerz in meiner Bauchregion vermischt sich mit dem Knurren und zwingt mich dazu, meinen Blick ohne zu Zögern nach unten zu richten, sodass ich aufhören kann, diesen Anblick ertragen zu müssen. Stattdessen fokussiere ich meine Gedanken und den Versuch, einen Plan zu entwickeln, wie ich hier herauskommen könnte.
In dieser Folterkammer liegt ein vor dem Tod stehendes Mädchen. Einen Plan zu schmieden, der mich und eventuell auch das Mädchen rettet, ist nahezu unmöglich. Aber was ist, wenn ich jetzt beginne, diese Räume zu erkunden? Dann hätte ich einen klareren Überblick und könnte versuchen zu flüchten. Natürlich gemeinsam mit dem Mädchen, ich will sie hier nicht alleine sterben lassen. Flüchten. Dieses Wort. Entweder ich lerne meine Feinde kennen, beobachte sie und finde ihre Schwachstellen, um sie schlussendlich zu besiegen oder ich spiele das Mädchen, das Angst hat, schwach ist und nur noch weg will.
In Ordnung, bevor ich mich für eine dieser Optionen entscheide, sollte ich lieber die Gegend und die naheliegenden Räume auswendig lernen. Kurz schließe ich meine Augen, atme tief durch, ignoriere den Schmerz, das Loch in meinem Arm und das leichte, aber kaum bemerkbare Brennen an den Stellen, an denen er das Brenneisen gehalten hatte, stehe schwungvoll auf und reiße meine Augen mit neuem Mut und voller Elan auf. Die schlimmen Gedanken in meinem Kopf schüttele ich weg und nun drehe ich mich einmal um meine eigene Achse, damit ich einen angrenzenden Raum oder etwas in der Art finde.
Gekonnt ignoriere ich die Tür zu der Folterkammer, stattdessen erblicke ich ein aus Holz bestehendes Tor, das sich links von der Folterkammertür aus befindet. Es besteht aus Holzstangen, dessen Lücken teils mit durchsichtigem Glas geschlossen sind. Vor der Tür liegen einige Glasscherben, die meine Vermutung, dass jemand die restlichen Glasscheiben absichtlich zu Lücken verarbeitet hätte, bestätigen. Langsam schreite ich erhobenem Hauptes Richtung Tür. Meine Schritte hallen an den Wänden wider und das Echo löst eine kleine Gänsehaut auf meiner Haut aus, die meine Nackenhaare zum Aufstellen bringt. Als ich ein hohes Quietschen wahrnehme, drücke ich aus Reflex meine Ohren zu, aber der kalte Lufthauch an meinem nackten Rücken zwingt meinen Körper, sich mit unaufhörlichem Zittern auf den Boden zu knien.
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Ich, die Auserwählte
Mystery / ThrillerIch bin geschockt, als ich aufwache und mich selber blutend am Boden liegen sehe. Ich sehe mich sterben und stürze daraufhin in ein gefährliches Abenteuer, das mich leiden und mehrmals verzweifeln lässt.