Sie durchsuchen mich. Meine Taschen, meine Kleidung und mein Handy. Allerdings werden sie nichts finden, denn er hat alle Beweise vernichtet. Wenn er überhaupt irgendetwas, das sie zu ihm locken könnte, dagelassen hat. Hat er aber nicht. Dafür ist er zu vorsichtig. Bastard. Normalerweise würde ich jetzt, um 18 Uhr, mit meiner Familie zu Abend essen, aber der Gedanke, dass sie in wenigen Minuten erfahren, ich sei nicht mehr unter den Lebenden, lässt mich aufhorchen. Ein Gerichtsmediziner erzählt einem Polizisten gerade, was an mir zu finden ist. Ein paar Einstiche, Tränen und auf jeden Fall keine Hoffnung auf Wiederbelebung.
"Unfassbar, dass in einer Schule ein Mord begangen wurde. Wir müssen den Übeltäter finden.", meint eine kleine, brünette Frau mit einer blauen Uniform auf dessen Rücken in einer weißen Standart-Schrift groß 'Polizei' geschrieben ist. Insgesamt stehen hier vier Polizisten, zwei Sanitäter und ein Gerichtsmediziner herum. Warum auch immer der Gerichtsmediziner am Tatort arbeitet, aber mir ist seine Arbeit relativ egal. Er wendet sich von meinem toten Ich ab, steht auf und verlässt mit der Brünetten den Turnsaal. Neben dem großen Mann sieht die Frau wirklich sehr winzig aus. Und auch sehr dünn.
Während ich die beiden bei ihrem Abgang beobachte, heben die Sanitäter meine Leiche in eine Trage und rollen mich ebenfalls aus der Schule hinaus. Die restlichen drei Polizisten versuchen gerade den Tathergang zu konstruieren. Ich schaue die drei an, drehe mich abrupt um und laufe meiner toten Leiche hinterher. Tote Leiche, keine Lebendige. Zwar weiß ich nicht, was mich zu ihr führt, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich ihr folgen soll. Eigentlich will ich jetzt nur noch meine Familie sehen. Diese Familie, die gleich erfährt, dass ich eiskalt ermordet worden bin und keine Chance hatte, ihnen zu sagen, was ich für sie fühle, und dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Aber es war zu spät. Zu spät, um sich für meine Taten und Worten in den letzten Jahren zu entschuldigen.
Zum Glück spüre ich nicht, wie hart diese Sitzbank im Krankenwagen ist, denn sie sieht verdammt unbequem aus. Vor mir liege Ich, nein, eher mein totes Ich, das in der menschlichen Welt zu nichts nütze ist und nur noch an mich, das Ich, das in der spirituellen Welt gefangen ist, erinnern soll, obwohl ich mir immer noch nicht im Klaren darüber bin, wer sich an mich erinnern will, und über diesem Ich ist eine marineblaue Plane, welche mit einem Zippverschluss verschlossen ist, um meine aschfahle Haut und die blutigen Öffnungen zu verstecken, damit niemand vor Ekel oder sogar Resignation in Ohnmacht fällt. Wegen der Trägheit werde ich durch das plötzliche Bremsen des Wagens nach rechts geschubst, bevor ich realisieren kann, dass wir vor dem Krankenhaus stehen und sich die Hintertüren öffnen.
Natürlich weiß ich, als orientierungsvolle Stadtbummlerin, in welche Richtung mein zu Hause ist. Tatsächlich liege ich mit meiner Vermutung leider falsch. Allerdings, wenn ich durch Konzentration und beinahe schon Meditation einige Gegenstände bewegen kann, dann kann ich mich bestimmt von Ort zu Ort beamen. Blöderweise habe ich kein Handbuch für das Leben auf einer spirituellen Ebene. Aber wenn ich einmal Zeit und genung Erfahrung habe, werde ich beginnen ein Handbuch für 'Geister' auf der spirituellen, fernab der menschlichen, Ebene zu schreiben. Vielleicht werden ich dadurch berühmt und gefeiert. Wäre auf jeden Fall sehr cool und großzügig. Ich meine, ich werde zuerst zum Ableben verurteilt, also erstochen, danach werde ich anscheinend auf einer anderen Ebene als scheinbarer Geist gefangen und zuletzt werde ich durch ein Handbuch für das Leben einer Seele berühmt. Besser kann es nicht mehr laufen! Ich habe mein Ziel also fast erreicht. Gefeierter Geisterhandbuchautor. Wer möchte das nicht? Ist ja nicht so, als hätte ich mein ganzes Leben noch vor mir.
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Ich, die Auserwählte
Mistero / ThrillerIch bin geschockt, als ich aufwache und mich selber blutend am Boden liegen sehe. Ich sehe mich sterben und stürze daraufhin in ein gefährliches Abenteuer, das mich leiden und mehrmals verzweifeln lässt.