3. April - agentbookworm007 - Zeit im Fluss

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Wehmütig gleitet mein Blick zu dem blauen Himmel. Vögel ziehen dort oben ihre Kreise. Wie ein altes Uhrwerk. Immer wieder aufs Neue. Erneuerung. Ende. Es geht weiter. Egal was ich tue oder lasse. Er wird nicht kommen. Die Zeit ist vergangen und es ist spät. Zu spät. Gerade will ich aufstehen und gehen, da schiebt sich ein mir wohlbekanntes und doch fremd gewordenes Gesicht in meine Sicht.

„Du?“, frage ich und kann dabei nicht verhindern, dass meine Stimme heiser klingt. „Ich“, bestätigt er. Er setzt sich neben mich und schweigt. Gemeinsam warten wir. Auf was, weiß ich nicht. Bis der Andere anfängt zu reden? Bis die Sonne untergeht und die Vögel aufhören über uns zu kreisen? Oder vielleicht warten wir einfach, weil wir es gewohnt sind, zu warten. Irgendwann sagt er: „Hast du die ganze Zeit auf mich gewartet?“ Ich schweige. Ich warte immer noch, will ich sagen. „Ja.“ „Es ist viel Zeit vergangen“, setzt er wieder an. „Ja.“ In seinen eisblauen Augen spiegelt sich Verwirrung. „Ich sehne mich zurück.“ Immer noch ruht sein Blick auf mir. „Man kann die Zeit weder anhalten, noch zurückspulen“, erwidere ich schließlich. „Aber man kann sie bewahren und...“ Ich unterbreche ihn. „Sie bewahren oder sie vergessen, du hast dich für das Leichtere entschieden.“ Meine Stimme klingt vorwurfsvoll in meinen Ohren, und verletzt. „Hast du die Zeit genossen?“, fragt er, ohne auf meine Wut und Verletzlichkeit zu reagieren. Ich nicke. „Jeden einzelnen Tag, jede Minuten, jeden Augenblick.“ Ein Vogel landet vor uns auf dem Kiesweg und scharrt. Er scheint die Veränderung zu spüren, die in der Luft liegt. Es ist eine Amsel. Sie wird den Winter hier verbringen. Er war nie so. Er war ein Zugvogel. Ständig in Bewegung, aber nie so zielgerichtet, wie ein Vogel. Schließlich erhebe ich mich und erkläre ihm: „Ich gehe. Die Zeit mit dir und mir ist zu Ende. Ein neuer Anfang. Ich hoffe, du findest dein Glück. Aber vergiss nicht: Die Zeit geht weiter, ob du mit ihr gehst oder nicht, ist deine Entscheidung. Lebe wohl!“ Ein letzter Blick in seine kalten blauen Augen, die ich aber zu lieben gelernt habe. Die Amsel breitet ihre Flügel aus und stößt einen Schrei aus. Dann erhebt sie sich in die Luft. Vielleicht sorgt sie jetzt für die Zukunft, denke ich. Und ich wende mich ab und gehe. Ein neues Kapitel hat angefangen. Die Zeit mit ihm ist längst zu Ende. Viel zu lange habe ich gewartet.

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