1. Januar - JenniferBorkowitz - Ort der Freiheit

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Sie war nicht wie andere Frauen in ihrem Alter. Jede hätte es stillschweigend hingenommen. Sie war dafür bekannt, ein vorlautes Mundwerk zu besitzen, wodurch viele heiratsfähige Männer ihr und ihrer Familie aus dem Weg gingen.

Nachdenklich saß sie an ihrem Fenster und starrte auf die Einfahrt. Jeder einzelne Gast stieg in eine andere Limousine und wurde von den Chauffeuren zu seinem Anwesen gefahren. Für einen Augenblick schaute er hoch zu ihrem Fenster. Lächelnd winkte er ihr zu und hauchte einen Kuss in ihre Richtung. Sie jedoch erstarrte kurz und wendete sich ab. Bei seinem Anblick lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Während sie aufstand und zu ihrem Bett ging, dachte sie über ihr Handeln nach. 'Vielleicht hätte ich nicht vor allen Leuten meine Meinung verkünden sollen.' Sie wusste, dass ihr Vater sie dafür bestrafen würde. In diesen Zeiten war es Gang und Gebe, dass der Vater einen Mann für seine Tochter organisierte.

Unter ihren Freundinnen galt ihr Verlobter als 'der Henker'. Viele Male war er zuvor verheiratet gewesen, aber keine seiner Frauen wurde je wieder gesehen. Das Recht des Mannes war es, seine Frau so zu behandeln, wie er es für nötig hielt. Stieß ihr etwas zu, so war es ihre eigene Schuld, da sie nicht ihrem Mann gehorchte. In dieser Zeit scherrte sich niemand darum, wie es den Frauen erging. Jene konnten sich glücklich schätzen, die einem fürsorglichen Mann gehörten.

Der fortwährende Krieg hatte die Menschen und ihre Werte verändert. Frauen wurden zu Besitztümern; viele wurden versklavt, so wie auch ihre Mutter. Der Vater hat sie ersteigert, weil sie schön war. Sie hatte leuchtend rote Haare, die zu dieser Zeit nur noch selten und begehrt waren. Diese leuchtenden Haare hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Allerdings war ihre restliche Erscheinung missglückt. Als Produkt eines verunglückten Experimtes passte weder Hautfarbe noch Augenfarbe zu ihren Haaren. Die Haut ihrer Mutter war strahlend hell und ihre Augen schimmerten grün, was als ein Ideal galt. Sie selbst hatte eine olivgrüne Haut und schlammfarbene Augen, was sie uninteressant machte, da jeder zweite mit diesen Ton geboren wurde. Sie ist das Ergebnis eines Projekts junger Studenten, wobei ihre Mutter zu Studienzwecken künstlich befruchtet wurde. Diese Tatsache blieb bei dem Verkauf an ihren Mann jedoch verschwiegen. Somit musste er dieses Kind annehmen und aufziehen, was ihn immer wieder zu Wutausbrüchen brachte.

Oft hatte sie mitbekommen, wie er ihre Mutter schlug und vergewaltigte. Sie schwor sich, eines Tages mit ihrer Mutter zu fliehen, doch bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte sie nicht den Mut dazu. Still und heimlich schlich sie in den Nächte an den Wachen vorbei zu einer Lichtung. Dort konnte sie all ihre Sorgen und Ängste beiseite drängen und sie selbst sein. Sie tanzte durch das hohe Gras zu einer stummen Musik, sie flechtete Kränze aus Blumen und Gräsern und sie beobachtete die Sterne und die Milchstraße, die über ihren Kopf hinweg fuhr. Nur an diesem Platz konnte sie frei sein. Frei von den Verpflichtungen und den Vorwürfen, den Blicken der Männer und den Lästereien der Frauen.

Am Abend hatte sie einen Herren kennen gelernt; einen der geladenen Gäste. Sie hatte ihn zuvor noch nie gesehen, doch sofort war sie in seinem Bann. Er fiel ihr direkt auf, als er die Halle betrat. Sein Anzug schimmerte in silbernen Tönen, welche sie noch nie gesehen hatte. Fasziniert sah sie in sein markantes Gesicht. Ihr Blick fiel auf zwei durchdringende graue Augen, die sie bereits beobachteten. Verlegen drehte sie sich wieder zur Bühne, wo ihr Vater seine Gäste begrüßte. Dabei bemerkte sie nicht, wie der unbekannte Mann ihr immer näher kam und sie schließlich ansprach.

Sie schrack hoch und spürte eine Wärme in seiner Stimme, die sie nur von ihrer Mutter kannte. Obwohl sie ihm gern geantwortet hätte, wusste sie, dass es sich nicht gehörte. Sie durfte nur mit dem Mann sprechen, dem sie versprochen war. Immer wieder flüsterte er ihr Komplimente zu, woraufhin sie nervös an ihren Fingern spielte. Ihre Hände legte sie streng übereinander, um es zu verbergen, doch ihm entging nichts. "Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Ich werde dir kein Leid zufügen!" Sie horchte auf und drehte ihren Kopf leicht in seine Richtung. "Ich möchte um deine Hand anhalten!" Erschrocken fuhr sie herum und sah direkt in seine Augen. Ihre Welt stand für Sekunden still. Sie bekam nicht mehr mit, was um sie herum geschah.

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