Stockfinster war es. Stockfinster und eisig kalt. Durch die zerbrochenen Fenster schien das grelle Mondlicht in blauen und schwarzen Farben. Es warf Schatten auf Wände und Fußböden, die aussahen, wie menschenfressende, furchterregende Wesen, mit spitzen Zähnen und unheimlichen Klauen. "So jemand wie du hat nichts hier verloren", flüsterten die Schatten mir zu. Unheimlich, wie schrill und doch so leise ihre Stimme klang.
Ihre schwarzen Gewänder hingen schlapp auf den Boden hinunter und man konnte nicht erkennen, wie ihr Körper aussah. Das Einzige, was man sehen konnte, waren die unmenschlichen Konturen ihres ganzen Daseins. Sie ließen schrille Schreie von sich hören und tanzten um mich und den Sessel herum, auf dem ich saß. Immer wieder ertönten diese ohrenbetäubenden Schreie, wie Sirenen. Andere Wesen hingegen flüsterten mir Dinge zu. Sie brannten sich in mein Gehirn und ließen mich nicht los.
"Mörder"
"Schuldig"
"Du gehörst in die Hölle"
"Hölle"
Ich sah dich vor meinen Augen. Ich verstand, was die Wesen meinten, denn ich war ein schlechter Mensch. In Gedanken versunken, spielte sich diese ganze Situation nochmal vor meinen Augen ab. Du standest dort, ein paar Meter vor meinen Augen, schriest meinen Namen und betteltest mich an, dass ich es nicht tun sollte. Ich hätte auf dich hören sollen. Hätte auf deine Schreie und Bitten reagieren sollen...
Was wäre passiert, hätte ich es nicht getan? Hätte ich wirklich auf deine Schreie geachtet? Dann hätte ich möglicherweise keine Schuldgefühle. Doch, die hatte ich, da ich dich nicht beachtet hatte. Ich hatte einfach nicht auf dich gehört! Gott, ich war so dumm! So dumm zu glauben, dass ich es nur für dich getan hatte.
Meine Gedanken schweiften ab. Deine Augen, so schimmernd Gold, genau, wie deine goldblonden Haare. Ein Schatz, du warst ein Schatz und ein Engel. Ich erinnerte mich. Dort waren Flammen und es war sehr heiß. Du schriest, vor wenigen Minuten hatten wir uns noch geküsst. Du schriest, weintest und flehtest mich an, dich dort herauszuholen. Und ich? Ich sah nur dabei zu, wie du littest. Tausende Tode starbst. Und ich tat nichts.
Ich stand ein paar Meter von dir entfernt und rührte mich nicht, wie eine Statue. Ich sah dir praktisch dabei zu, wie du Schmerzen erlittest und tat nichts. Manche könnten denken, dass diese Tatsache mein schlimmstes Geheimnis wäre. Doch das war es nicht. Ganz sicher nicht, denn es war nicht das schlimmste und dunkelste meiner vielen Geheimnisse.
Die Flammen schreckten mich nicht ab. Ich empfand ein Gefühl der Ruhe in der Nähe dieser Flammen. Wenn ich alleine war, empfand ich ein Gefühl der Ruhe. Doch das Feuer in deiner Nähe zu sehen, machte mir Angst. Das Feuer war dein Feind, im Gegensatz zu mir. Denn das Feuer war dein Feind und mein Freund.
Du wusstest, zu was ich fähig war. Und du wusstest ganz genau, wie du mit mir umzugehen hattest, im Gegensatz zu anderen Frauen. Du warst keine von ihnen. Du warst nicht überheblich und aufbrausend, sondern stets darauf bedacht, dass zwischen uns Harmonie herrschte. Irgendwie warst du meine Seelenverwandte.
Das Mädchen vor dir, hatte einfach nur Pech, mich provoziert zu haben. Hätte sie es nicht getan, wäre sie jetzt mit Sicherheit in Frieden und wäre glücklich. Ich konnte mich erinnern, wie sie mich beleidigt hatte. Wie sie mich als Mörder und Monster bezeichnet hatte und das war wohl ihr Fehler gewesen. Ich konnte meine Kräfte nicht kontrollieren, sie kontrollierten mich. Ich hatte das Mädchen eiskalt umgebracht. Ihr die Kehle zugedrückt, als würde ich das jeden Tag machen. Im Grunde genommen war es ja fast so, doch ich tat es nicht jeden Tag. Ich brachte nicht jeden einfach ohne Grund um. Der Grund musste schon triftig sein, um die Erlaubnis zu bekommen, jemandem etwas anzutun.
Doch du hattest es immer verhindert, dass wir auch nur ein bisschen streiten konnten. Du hattest immer die Schuld auf dich genommen, um mich in keinster Weise zu belasten oder zu reizen. Das war süß von dir, doch jetzt verstand ich es ein bisschen. Du liebtest mich wirklich, aus tiefstem Herzen. Mit allem Drum und Dran und ohne Wenn und Aber.
Deine Eltern wussten nichts von mir, denn sie hätten etwas bemerkt. Sie hätten bemerkt, dass ich anders war und außerdem war es viel zu gefährlich mit zu ihnen zu kommen. Hätten sie etwas gegen mich gesagt, hätte ich mich nicht unter Kontrolle gehabt. Ich hätte sie höchst wahrscheinlich umgebracht...
Ich war dein Geheimnis. Dein großes, dunkles Geheimnis. Und Tatsache war, dass ich nicht immer nur gut für dich war. Ich hatte dich verletzt, dich zum Weinen gebracht und Wörter gesagt, die dich immer wieder ein kleines Stückchen zerstört hatten. Doch innerlich hattest du genau gewusst, wie sehr ich versucht hatte, dich zu lieben.
Im Gegensatz zu deinen Eltern, wäre es für dich harmloser gewesen, hätten deine Eltern von mir erfahren. Denn hätte von meiner Familie jemand erfahren, dass du menschlich bist und ich nur zur Hälfte...dann hätten sie dich zerstört. Sie hätten sich gequält und am Ende umgebracht. Da war hingegen das Feuer, in dem du deinen Tod gefunden hattest, nichts. Es war nichts im Vergleich zu dem, was dich bei meiner Familie erwartet hätte.
Ich erinnerte mich noch genau, wie du einmal zu mir gesagt hattest, dass du daran glauben würdest, dass ich meine Kraft unter Kontrolle bekommen würde. Meinem Drang widerstehen konnte, Menschen zu töten, wenn sie etwas gegen mich gesagt hatten. Du hattest mir gesagt, ich sollte mir etwas ganz genau einprägen, es nie vergessen und im Moment der Schwäche daran denken.
"Merke dir eins, Liebster", hattest du gesagt. "Beherrschst du deine Kraft, beherrschst du die Welt. Beherrschst du sie nicht, beherrscht die Welt dich."
Und ich hatte daran gedacht, in der Situation, in der ich dich verlor. Ich hatte wirklich daran gedacht. Doch es war zu spät gewesen. Ich hatte es einfach nicht früh genug in meinen Kopf bekommen können.
Ohnehin, es war wohl besser so, dass du jetzt in Frieden und Ruhe warst. Im Himmel. Denn lange hätte unser Geheimnis nicht mehr gehalten. Lange hätte ich dich nicht mehr verheimlichen können. Dich. Mein größtes und dunkelstes Geheimnis.
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Geschichtenerzähler
Short StoryDies ist ein Buch voller Kurzgeschichten, die von euch kommen. Jeden Monat gibt es ein neues Thema für euch, zu dem ihr eine Kurzgeschichte verfassen könnt. Mit dieser habt ihr dann die Möglichkeit zum/r Geschichtenerzähler/in des Monats zu werden...