Ich sitze an den Klippen und schaue auf den Fluss unter mir. Eigentlich sieht es mehr aus wie ein See. Er tritt aus der Erde und verschwindet nach ein paar Kilometern wieder in den Untergrund. Wenn man die Strömung nicht sehen würde, könnte man wirklich denken es wäre ein See. Der Fluss ist so breit, dass man das andere Ufer kaum sehen kann. Lange Steinbrücken überziehen den freien Teil des Flusses. Es sind keine gebauten Brücken, sie sind ganz natürlich und so kommt es, dass es viele Kreuzungen und Verzweigungen gibt. Es ist eine komische Konstruktion, die nur knapp über der Wasseroberfläche schwebt. Normalerweise würde so etwas wahrscheinlich nicht halten, aber das hier ist auch nicht normal. Der Fluss ist kein normaler Fluss. Er wird Fluss der Zeit genannt. In ihm fließt kein Wasser, sondern Bilder, Situationen und Gedanken. Wenn man auf ihn schaut, sieht man alle möglichen Farben und Landschaften. Manchmal auch nur Dunkelheit. Wenn man ihm lauscht, hört man Lachen, Weinen, Schreie, Autos, Bahnen, Busse, Rauschen, Musik und einfach alles Mögliche. Wenn man genauer hinsieht entdeckt man, dass jedes Bild anders aussieht. Keines gleicht dem anderen. Das alles sind Situationen, die einem Menschen in diesem Moment passieren. Die Gegenwart.
Ich stehe auf und wandere langsam die Brücken entlang. Ich bin ein Wächter der Zeit, genauer gesagt der Gegenwart. Meine Aufgabe ist es, über diesen Teil des Flusses zu wachen und dafür zu sorgen, dass kein Moment stecken bleibt. Ich habe noch nie mitbekommen, ob sowas schon mal passiert ist. Ich meine, wo sollen die denn bitte stecken bleiben? Aber es macht Spaß, sie zu beobachten. Natürlich mache ich das nicht alleine, dafür ist die Fläche viel zu groß. Ich habe noch viele Kollegen. Die Meisten machen es so wie ich und schauen sich einfach Momente an.
Ich bleibe stehen, setze mich hin und schaue den Fluss unter mir an. Ich sehe viele verschiedene Bilder. Die meisten sind dunkel und schwarz, vermutlich schlafen die Menschen, zu denen diese Bilder gehören. Auf anderen ist ein Klassenzimmer oder ein Büro zu sehen. Diese Situationen sind meist nicht sonderlich interessant, da es meistens einfach nur arbeiten ist. Plötzlich fällt mir ein Bild ins Auge, auf dem der Eiffelturm zu sehen ist. Neugierig bücke ich mich und berühre das Bild mit der Hand. Sofort werde ich in das Geschehen gesogen.
Die Frau, zu der dieser Moment gehört, steht staunend auf dem Platz vor dem Eiffelturm. Nach einem Moment der unbändigen Freude und Bewunderung, fällt sie dem Mann neben sich um den Hals und drückt ihm ein Kuss auf den Mund. Sie bedankt sich tausend Mal bei ihm für diese gelungene Überraschung. Er lacht nur und sagt er habe es gern getan. Ich kann spüren, wie sehr es ihn freut, sie so glücklich gemacht zu haben. Nachdem sie ein paar Fotos gemacht haben, stellen sie sich in der Schlange an, die zum Fahrstuhl des Eiffelturms führt. Nach einer Weile, in der sie trotz der Wartezeit nicht die Freude verliert, steigen die Beiden in den Fahrstuhl und fahren nach oben. Die Frau wird immer aufgeregter und auch ich werde etwas hibbelig. Als der Fahrstuhl hält, greift der Mann nach ihrer Hand und zieht sie auf die Aussichtsplattform. Als sie am Geländer angekommen sind, stehen sie eine Weile nur still da und genießen den unglaublichen Ausblick über Paris. Sie entdecken noch einige andere Sehenswürdigkeiten, wie das Louvre, und beschließen, es auch noch zu besuchen. Nachdem sie lange den Ausblick genossen und Fotos gemacht haben, gehen sie etwas essen. Sie unterhalten sich über alles Mögliche und lachen viel. Als sie wieder an den Rand der Plattform treten, geht die Sonne bereits unter. Ein paar Minuten lang schauen sie nur auf das Bild, das sich ihnen bietet. Plötzlich geht der Mann neben der Frau auf die Knie und holt eine Schachtel mit einem Ring darin heraus. Die Frau schlägt sich, mit Tränen in den Augen, die Hände vor dem Mund zusammen, als er anfängt zu sprechen:
„Wir kennen uns jetzt schon seit fünf Jahren und jeder Tag mit dir ist wie der Beste meines Lebens. Ich liebe dich so sehr, wie am ersten Tag und will nie wieder ohne dich sein. Deshalb frage ich dich: Willst du meine Frau werden?“
Voller Freude fällt sie ihm um den Hals und murmelt tausend Mal „Ja, ja, ja!“ vor sich hin. Freudig steckt er ihr den Ring an den Finger und zieht sie zu sich, um sie zu küssen. Dieser Kuss ist so voller Liebe, dass ich es am eigenen Leibe spüren kann. Ich bekomme eine Gänsehaut und während die andere Menschen auf der Plattform applaudieren, werde ich langsam wieder auf die Steinbrücke zurückgezogen. Auch als ich komplett aus dem Geschehen verschwunden bin, kann ich immer noch die Liebe der beiden spüren und denke daran, dass egal wie lange der Fluss der Zeit noch fließt, immer irgendwo Liebe existiert.
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Geschichtenerzähler
Short StoryDies ist ein Buch voller Kurzgeschichten, die von euch kommen. Jeden Monat gibt es ein neues Thema für euch, zu dem ihr eine Kurzgeschichte verfassen könnt. Mit dieser habt ihr dann die Möglichkeit zum/r Geschichtenerzähler/in des Monats zu werden...