1. Aprilgeschichte - Abarys - Melodie der Farben

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Immer wieder wische ich meine schwitzigen, vor Nervosität zitternden Hände an meinem Kleid ab. Die Menschen um mich herum unterhalten sich aufgeregt miteinander, aber es kommt mir vor, als würden sie mich alle anschreien. Ich habe das Gefühl, mein Kopf explodiert gleich, am liebsten würde ich mich hinlegen, um mich zu beruhigen, doch paradoxerweise hindert mich meine Nervosität daran. Und natürlich der Umstand dass ich nicht mal mehr 5 Minuten habe. Kopflos fahre ich immer wieder durch meine Haare, mein Blick hetzt rastlos hin und her. Ich schaffe es kaum einen Herzschlag, mich ruhig hinzustellen, bevor meine Beine sich wieder selbstständig machen, um jeden Quadratzentimeter des Raumes berührt zu haben. Die Zeit ist wohl noch ruheloser als ich, denn jetzt habe ich nur noch ein paar Augenblicke, bis es losgeht.

Eine große kräftige Hand legt sich auf meine Rücken und schiebt mich durch die Stühle und Tische in die Mitte des Saales. Wir steuern auf ein Podest zu, auf dem Awan geduldig steht und mit dem Publikum auf mich und meine Begleitung wartet. Stolpernd werde ich die Treppe hoch geschoben und stehe jetzt hilflos inmitten des riesigen Saales. Irgendwann nimmt mein Unterbewusstsein wahr, dass alle aufgestanden sind, um zu klatschen. Angestrengt versuche ich trotz der blendenden Scheinwerfer ihre Gesichter zu erkennen und stelle fest, dass sie alle gut drauf sind. Sie sind glücklich und voller Erwartung, doch ihr optimistisches Lachen und ihre euphorisch blitzenden Augen machen mir nur noch mehr Angst. Das gleißende Licht bringt mich dazu, meine Hände noch öfter an meinem Kleid abwischen zu wollen, doch ein mich erwartungsvoll anlachendes Gesicht hindert mich daran.

"Ja?", stottere ich und ziehe meine Augenbrauen hoch. "Ja? Bist du dir sicher Mädchen? Vor ein paar Minuten warst du noch vehement dagegen.", poltert seine tiefe, lachende Stimme in meine Richtung. "Oh, dann.. Nein, denke ich." Es war nur ein Flüstern, doch er schiebt mir sein Mikrofon ins Gesicht und meine brüchige Stimme hallt durch den Saal. Gelächter ertönt aus den Zuschauerreihen. Awan schüttelt den Kopf und sieht mich vergeltend an. Er spielt den Besorgten und fragt: "Ist alles okay bei dir? Dein Gesicht ist schon um einige Nuancen heller geworden. Nicht dass du dich noch auflöst." Nach Bestätigung suchend, dreht er sich zum Publikum, was daraufhin übertrieben zustimmend Beifall klatscht, als wäre es das lustigste, was sie jemals gehört hätten.

Resigniert seufze ich und nicke dann. Es ist ihnen ja eh egal. "Na wenn das so ist..", seine Stimme dröhnt in meinen Ohren, bevor er sie senkt und einen geheimnisvollen Ton anstimmt, "lasst uns", dramatische Pause seinerseits, ich könnte wahrscheinlich die Spannung im Raum spüren, wenn ich nicht komplett fertig wäre, "beginnen."

Jubelnd und schreiend stehen die Zuschauer auf, klatschen, bis ihre Hände rot sind und werden von ihrer abartigen Freude übermannt.

Ich erinnere mich an Macawis Worte. Du musst die Augen schließen und lauschen, dann hörst du sie vielleicht. Das hat sie gesagt. Aber du musst dich auch wirklich darauf konzentrieren, sie kommen nur, wenn du dich vollkommen auf sie einlässt. Mach eine falsche Bewegung, oder denke einen falschen Gedanken und sie ziehen sich wieder zurück. Meine bis zum Anschlag gestiegene Nervosität bringt mich dazu, unkontrolliert zu zittern und nach Luft zu schnappen. ...sie ziehen sich wieder zurück! Du weißt doch, was das bedeutet, oder? Du hast nur eine Chance! Macawis Stimme hallt in meinem Kopf. Bring sie dazu, auf dich aufmerksam zu werden, indem du ihnen Aufmerksamkeit schenkst. Bitte denk daran, du darfst dich nicht ablenken lassen! Panisch drehe ich mich im Kreis und versuche Awan ausfindig zu machen, doch er ist verschwunden. Ich lege meine zitternde Hand auf meinen Brustkorb um mein flatterndes Herz zu beruhigen, doch es hilft nichts. Ob sie bereit sind und ob du es Wert bist, hängt ganz allein von dir ab. Ich stolpere über meine eigenen Füße und höre erschrockene Ausrufe, als ich beinahe von dem Podest falle. Konzentriere dich und überzeuge sie von dir. Vielleicht erweisen sie dir die Ehre und tanzen dir ihr Lied vor. Es ist wunderbar, glaub mir. Und plötzlich überkommt mich eine absurde innere Ruhe, die ich mir nicht erklären kann.

Langsam stehe ich wieder auf, ich stelle mich in die Mitte des Podestes und nehme das Mikrofon entgegen, welches mir hingehalten wird. Gesprächsfetzen aus dem Zuschauerraum fliegen auf mich zu, "Fang schon an!", "Das ist so aufregend!", "Glaubst du es funktioniert?", "Komm schon, leg los!". Ich schalte ab. Keine Geräusche dringen mehr zu mir durch. Sobald ich meine Augen geschlossen habe, sehe ich nur noch schwarz. Der Boden unter mir vibriert inzwischen vom Bass der Musik, Ich stehe direkt neben dem Lautsprecher, aber es ist nicht unangenehm oder zu laut. Es ist irgendwie schön. Allmählich lasse ich mich in der dumpfen Melodie fallen und meine Hand führt das Mikrofon an meinen Mund. Zögernd fange ich an zu singen und bin mit einem Schlag überwältigt.

Sobald der erste Ton meine Lippen verlassen hat, explodiert vor meinem inneren Auge ein Farbenfeuer, wie niemand es je gesehen hat. Aus dem Nichts blitzen kleine Farbpunkte auf, die im ersten Augenblick farblos aussehen und doch alle Farben in sich zu vereinen scheinen. Sie schwirren in der Luft herum und wenn sich zwei von ihnen treffen, flammen sie kurz auf und verpuffen dann lautlos. Der Moment ist nur einen Herzschlag lang, kommt mir vor wie eine Ewigkeit und ist doch zu kurz. Der nächste Ton stolpert aus meinem Mund und die Farbflecken ziehen sich länger und länger bis sich überall um mich herum seidige Fäden schlängeln und herum winden. Sie suchen sich alle ihren Weg, ohne einander zu berühren oder zu verknoten. In geschmeidigen Wellen ziehen sie einen Kreis um mich herum, nur um kurz darauf wieder in alle Richtungen davon zusteben. Kaum habe ich die letzte Luft aus meinen Lungen aus gehaucht und zum nächsten Ton angesetzt, surren die seidenen Fäden scheinbar unschlüssig hin und her, doch schon nach kurzer Zeit kann man eine bestimmte Formation erkennen, auch wenn diese ziemlich durcheinander ist. Einzelne Fäden haben sich an beliebigen Stellen miteinander verknotet, oder ihr Ende flattert im Nichts herum und trotzdem hat sich jetzt ein atemberaubendes polychromes Netz aus Farbsträngen gebildet, welches ununterbrochen seine Konformation ändert und trotzdem eine unfassbare Ruhe ausstrahlt. Nicht mal einen Herzschlag später, und doch nach so langer Zeit fangen die frei herum fliegenden Enden an, in allen sich vorstellbaren Farben und noch mehr zu brennen. Bevor ich wahrnehmen konnte, dass sie in farbenfrohe Flammen aufgegangen sind, explodieren sie und gehen über in pulvrige Wolken, die bei jedem Bassschlag der Musik im Hintergrund pulsieren. Sie blähen sich auf, fallen in sich zusammen und bilden grotesk schöne Bilder. Wieder endet der ewig andauernde Moment viel zu schnell und mit dem nächsten Ton rinnen dickflüssige bunte Tropfen an unsichtbaren Wänden hinunter. Jeder Farbtropfen ist so überfüllt mit Farben, dass er fast platzt, das gesamte Farbspektrum scheint sich in jedem Einzelnen aufzuhalten, ohne dass die Tropfen einfarbig oder durcheinander aussehen. Schlagartig bewegen sich die Farbtropfen aufeinander zu und strömen einen reißenden Fluss hinab, als die Melodie sich fortsetzt und ich den nächsten Ton anschneide. Alle Farben vermischen und trennen sich ununterbrochen, als würden sie einer unsichtbaren Macht folgen, die meine Stimme mit sich bringt. Fast schon automatisch folge ich dem Fluss, entgegen der farbigen Strömung und erblicke einen überirdisch schönen Wasserfall, in allen Farben leuchtend, einen unsichtbaren Vorsprung hinunterfallen. Die Töne kommen jetzt einfach nur noch aus meinem Mund, ohne dass ich darüber nachdenken muss. Ich gebe mich der Melodie der Farben hin.

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