Geschichtenerzähler

2. November - jollyhepcourse - Sie und Er

Nichtumdrehen. Weiter gehen. Sie spürte, wie er ihre Hand fester drückte.Und sie drückte zurück. Sie bogen um eine Hausecke. Ihr Herzklopfte und sie spürte seinen Herzschlag zwischen ihren Fingern. Siegenoss es zu spüren, dass er lebte. Im Hier. Und im Jetzt. Nicht inder Vergangenheit, denn die war vorüber, nicht in der Zukunft, denndie kannte sie nicht. Er blieb stehen. Sie tat es ihm nach und wandtesich ihm zu. Sie versank in seinen Augen und er ertrank in ihren. DasBlau zog sie hinab in die Tiefen seines Geistes und hinunter in seinHerz. Sie wollte für immer so stehen bleiben, mit ihren Händen inseinen und ihn einfach nur ansehen. Ohne nachzudenken, ohne sich zusorgen, im Moment zu leben. Aber ein lautes Geräusch zog sie unsanftzurück an die Oberfläche. Sie fuhren herum und etwas sagte ihnen,dass sie rennen mussten. Und sie rannten. Rannten immer weiter.Liefen immer weiter, sogar dann, als ihre Körper beinahe versagten.Schließlich drückte er sie in einen Hauseingang. Und hielt siefest, dass sie sich nicht regen konnte. Sie warteten. Warteten bis esvorbei war. Seine Stimme sagte „Ich liebe dich" und es sagte auchsein Herz. Doch sie sagte nichts. Sie stand einfach da und küssteihn. Im Hier und im Jetzt liebte sie ihn auch. Doch ihre Wortereichten nicht, um das verständlich zu machen. Und es waren Worte,die diesen Moment zerstörten. Fremde Worte. Sie mussten weiter. Undausnahmsweise an die Zukunft denken. An ihr Ziel. Also gingen siewieder. Diesmal ruhig. Unauffällig. Sie hatte Angst. Doch er hieltsie fest. Nicht umdrehen. Weiter gehen. Sie waren auf der Flucht.Warum, das wusste sie nicht mehr. Denn der Grund lag in derVergangenheit. Sie waren in einem Krieg. Weshalb, das hatte sie nochnie gewusst. Irgendwelche Herrscher, die den Hals nicht voll bekamenund an die Zukunft und die Vergangenheit dachten. Warum konnte mandie Vergangenheit nicht vergessen. Zumindest die unwichtigen Dinge.Die Vergangenheit war die schlimmste Zeit. Warum machte man sich übersie Gedanken, wenn man sie ohnehin nicht mehr ändern konnte. DieZukunft konnte wenigstens ein bisschen beeinflusst werden, aber mankonnte dennoch nicht sicher sagen, was passieren würde.

Siehielten sich versteckt und trotzdem wurden sie gefunden. Männer ohneGesichter und Gewissen griffen nach ihnen und zogen sie mit sich.Sie wehrte sich nicht, aber er schlug nach den dunklen Händen, dieihn festhielten. Doch es half ihm nicht. Sie schlugen nur zurück,bis er sich nicht mehr regte. Sie schrie, doch es klang wie dieStimme einer anderen. Ihr Verstand verschwand im dichten Nebel aussich überschlagenen Gedanken. Sie nahm kaum wahr, wie sie in einAuto gedrückt wurde. Sie sah nur, wie sein Kopf leblos auf ihrenBeinen ruhte. Sie strich ihm über die schwarzen Haare und sah, wiesich Tropfen auf seiner Stirn sammelten. Sie verstand nicht, dass esihre Tränen waren.

Siesaß und wartete. Nicht darauf, dass das Auto hielt, sondern darauf,dass sich seine Augen wieder öffneten. Sein Herz schlug, sie wusstees. Anders konnte es nicht sein, durfte es nicht sein. Schließlichkamen sie an, an einem der großen, grauen Häuser ohne Seele oderGeschichte. Und seine Augen waren immer noch geschlossen. Sie wurdedurch die Tür gezogen und weg gestoßen. Weg von ihm. Sie drehtesich um, doch man erlaubte ihr nicht, stehen zu bleiben.

Siestand in einem Saal, steril und weiß. Leute rannten um sie herum,alle die wahren Gesichter hinter einer harten Maske verborgen. EineFrau redete mit zu weicher Stimme auf sie ein. Sagte ihr, er seisicher. Warum log sie sie an? Sie wurde weiter gebracht. In einenRaum, der das Gegenteil der Halle war. Klein und grau, kahl unddreckig. Aber er war da. Saß auf einem niedrigen Bett, den Kopf andie Steinwand gelehnt. Sie schlossen die Tür hinter ihnen, aber esmachte ihr nicht aus, dass sie gefangen waren. Denn sie war mit ihmgefangen. In einem zeitlosen Raum, in dem man nur den Moment lebenkann, weil man keine Ahnung hat, was kommen wird.

Fürsie war es der schönste Ort auf Erden.