4. Mai - agentbookworm007 - Im Rausch des Glücks

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„Schwarz!", schreie ich, „alles ist so schwarz! Und die Angst... die Angst!" Meine Schreie hallen in meinem Kopf wieder. Immer schwächer und verzehrter, bis sie schließlich verebben. Meine Kehle ist rau und trocken. Meine Lippen spröde und rissig.

„Sie ist zu schwach. Sie wird nicht aufwachen", höre ich eine weit entfernte Stimme. Ein Wispern.

Tagelang, wochenlang, ja vielleicht auch schon über ganze Jahre umhüllt mich die Dunkelheit. Zeit hat ihre Bedeutung verloren. Nur die Angst und die Hilflosigkeit sind immer präsent. Wie stumme, düstere Begleiter.

„Gott!" Meine Stimme ist nun kaum mehr als ein Flüstern.

Ich brauche Gott. Jemanden, der mich aus dem Abgrund zieht. Wünsche mir, dass er mir diesen jemand schickt. Wer immer es auch sein mag.

„Lang macht ihr Körper das nicht mehr mit. Verabschiede dich!" Wieder die Stimme.

Ein Schauder jagt mir über den Rücken. Es ist ein Kampf, denke ich, ein Kampf, von dem ich weiß, dass ich ihn nicht gewinnen kann. Und doch hält er mich am Leben. Denn solange ich kämpfe, weiß ich, dass ich lebe.

Ich lausche. Wieder höre ich die Stimme, aber sie ist zu leise, um gehört zu werden. Ich bin froh darüber. Die Worte der körperlosen Stimme lassen mich denken, sie spräche über einen Todkranken. Und ich habe Angst, dass ich es bin, über die sie redet.

Sie ist schwach. Sie wird nicht aufwachen. Aber die Stimme irrt sich. Ich werde durchhalten. Ich werde so lange an meinem Leben festhalten, wie es nötig ist.

Denn das Loslassen jagt mir mehr Angst ein, als die Aussicht auf einen Kampf gegen die Dunkelheit.

Eine Erinnerung durchflutet mich. Seit Langem wieder kann ich mich erinnern.

Ich saß am Beckenrand eines Pools. Durch das schimmernde Wasser konnte ich einen knallroten Tauchring sehen. Ich holte tief Luft und ließ mich in das Becken gleiten. Fast hätte ich den Ring mit meinen kleinen Händen umklammert, aber in diesem Moment ging mir die Luft aus und ich schwamm mit kräftigen Zügen wieder nach oben und durchbrach prustend die Wasseroberfläche. Wieder holte ich Luft und wagte einen weiteren Versuch. Ich musste wieder auftauchen. Doch auch dieses Mal tauchte ich wieder ab. Mein Ehrgeiz und meine Kämpfernatur trieben mich an. Irgendwann - die Sonne stand schon tief am Himmel - schaffte ich es. Mit der linken Hand umfasste ich das unebene Material des Schwimmrings und stieß mich dann vom Beckenboden ab. Das berauschende Gefühl des Triumphs durchströmte mich und machte all die missglückten Versuche wett.

Kaum endet die Erinnerung, breitet die Finsternis auch schon wieder ihren dunklen Mantel über mir aus.

Die Erinnerung scheint mir in ihren Einzelheiten zu entgleiten, doch das Gefühl bleibt. Der Rausch des Sieges in meinen Adern.

„Lass mich noch ein Mal deine wundervollen Augen sehen."

Ich erschrecke.

Panik macht sich in mir breit. Ich habe Angst, die Stimme könne wieder anfangen zu reden. Mich letzten Endes doch davon überzeugen, dass mein Kampf schon verloren ist.

Einen Augenblick später merke ich, dass es eine andere Stimme ist. Sie klingt tiefer, sanfter und... liebevoll?

„Sie sind so unfassbar grün, weißt du? So voller Hoffnung und Leben. Solche Augen dürfen nicht geschlossen sein."

Ich merke, dass der Sprecher stockt.

Wer spricht mit mir?

„Als du mich das erste Mal geküsst hast, kam es mir vor als wäre ich in einem Rausch. Und das ohne Drogen, sondern allein durch die sanfte Berührung deiner Lippen hervorgerufen. Ich war in einem Rausch des Glücks."

Mir war kalt. Doch von dort, wo er meine Hand hielt, ging ein warmes Prickeln aus. „Und das ist der Orion. In der griechischen Mythologie heißt es, dass Artemis sich in Orion verliebte und ihr Keuschheitsgelübde brechen wollte. Aber ihr Zwillingsbruder Apollo wollte dies verhindern und so überredete er seine Schwester, mit Pfeilen auf die Wellen zu schießen. Orion, der im Meer schwamm wurde von einem ihrer Pfeile tödlich getroffen. Als Artemis sah, dass Orion tot war, versetzte sie ihn in den Sternenhimmel." Innerlich stöhnte ich. Immer wenn ich nervös bin, schmeiße ich mit Wörtern nur so um mich. Und in diesem Moment war ich verdammt nervös. „Clary, ruhig. Ich bin auch so schon nervös", sagte Jason neben mir und legte mir seine Hand auf die Schulter. Sofort verstummte ich schuldbewusst. Vorsichtig hob Jason mein Kinn, um mir in die Augen schauen zu können. Ich erwiderte seinen intensiven Blick, der in mir ungeahnte Gefühle auslöste. „Ich habe mich in dich verliebt, Clary. In deine Augen, dein Lächeln, deinen Charakter und deine perfekten Unperfektheiten. Und ich werde dich für immer lieben." Mein Herz stockte. Und anstelle einer Antwort legte ich meine Lippen sanft auf seine. Und ich tauche in eine vollkommen andere Welt ein. In eine Welt, in der es nur uns beide gibt, in einen Rausch des Glücks. „Wie lange ist für immer?", hauchte ich, als sich unsere Lippen für einige Sekunden trennten.

Die Erinnerung wird immer lebendiger. Sie scheint die Angst, die Stille und die Finsternis aus meinem Herzen zu vertreiben.

Ich will die Sterne wieder sehen.

Ich will ihn wieder sehen.

„Für immer ist länger, als drei Jahre", sagt Jason. Ich versuche, meine Augen zu öffnen. Aber ich scheitere.

„Für immer ist viel, viel länger."

Und ich spüre, dass sich seine Lippen auf meine legen.

„Ich liebe dich!", haucht er auf meinen Mund.

Und das ist der Moment, in dem ich das Leben so deutlich wiedererkenne, wie den Tauchring im Wasser. Ich muss es nur wiederholen.

Und ich hole tief Atmen und folge Jasons Stimme. Folge dem Glück.

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