Langsam öffnete ich meine Augen. Ich richtete mich verschlafen auf und spürte das weiche Gras zwischen meinen Fingern. Es war noch ein wenig feucht und roch wunderbar nach Frühling. Es verlieh mir ein wohliges Gefühl und ich streckte mich verschlafen. Verwirrt blickte ich mich um. Ich saß auf einer grünen Lichtung, inmitten von unglaublich vielen und schönen Blumen. Um die kleine Wiese lag ein dichter Laubwald. So schön dieser Ort auch war, da gab es ein Problem. Hier war ich zwar aufgewacht, aber ganz sicher nicht eingeschlafen.
Wie in Trance stand ich behutsam auf, als fürchtete ich, dass meine Beine unter mir nachgeben würden, sobald ich mein ganzes Gewicht auf sie verlagerte. Doch in Wirklichkeit fürchtete ich in diesem Moment nichts, genauso wenig, wie ich mich auf etwas freute. Ich kam mir einfach vor, wie in einem seltsamen Traum, den ich noch nicht zu Ende geträumt hatte. Ein Bild flammte vor meinem inneren Auge auf. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Ehe ich mich genauer auf es hätte konzentrieren können, war es auch schon wieder verschwunden. Nur ein leuchtend rotes Kleid war in meinem Gedächtnis hängen geblieben. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mit ihm nichts anfangen.
Ohne einen Gedanken an meine Situation zu verschwenden, ging ich vorsichtig los. Nach wenigen Metern hatte ich den Rand der sonnigen Grasfläche erreicht. Zwischen den hohen Bäumen wuchs nahezu undurchdringlich wirkendes Dickicht, bestehend aus Sträuchern, jungen Bäumen und hier und da ein paar abgebrochenen Ästen. Durch die ausladenden Baumkronen drang kaum ein Sonnenstrahl, nur an wenigen Stellen durchbrach er das Laub und offenbarte die Farben des frühlingshaften Waldes. Überall sprossen die jungen Pflanzen. Sie erblühten aus allen Ecken in jeder erdenklichen Farbe. Blau, Rot, Gelb, Violett. Und dann war da das Grün. Das Grün, das alles überlagerte. Das helle Grün des frischen Eichenlaubes, das dunkle Grün des Efeus und das unangenehme Grün des Schattens. In ebendieses Grün machte ich nun den ersten Schritt. Ich spürte Kälte und Feuchtigkeit an meinen Füßen. Ich blickte an mir herab und sah, dass ich keine Schuhe trug. Normalerweise trug ich doch immer welche. Oder? Als ich es mir genau überlegte, merkte ich, dass ich keine Ahnung hatte, was ich normalerweise trug oder tat. Ich wusste nichts über mich. Weder meinen Namen noch wo ich her kam oder was ich hier, in diesem einsamen Wald, tat.
Ich machte einen weiteren zögerlichen Schritt nach vorne. Dann setzte ich meinen einen Fuß etwas selbstbewusster vor dem anderen auf. Immer weiter entfernte ich mich von dem Ort, an dem ich erwacht war. Auf einmal spürte ich, dass etwas an meinem Rücken zog. Zum ersten Mal überkam mich ein richtiges Gefühl. Angst. Ich wollte herumwirbeln, auf alles gefasst, doch ich kam nicht ganz herum. Der Zug hinter mir wurde nur noch stärker. Bedacht drehte ich mich mit klopfendem Herzen auf meine Ausgangsposition zurück, atmete einmal tief durch und fühlte vorsichtig an der Stelle, an der Wiederstand am stärksten war. Reflexartig zuckte ich zurück, als meine Fingerspitzten an etwas Kaltes und Raues stießen. Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, führte ich meine Hände erneut auf meinen Rücken und diesmal umschloss ich den feuchten Gegenstand mit meinen Fingern. Immerhin bewegte es sich nicht. Dann, nach einigem hin und her mit mir selbst, verrenkte ich meinen Kopf soweit, dass ich mühevoll ansehen konnte, wer oder was mich festhielt. Als ich erkannte, was es war, lies ich die Luft, die ich unbewusst angehalten hatte, stoßartig aus meinen Lungen entweichen. Es war ein etwa fingerdicker Ast, der sich in dem weißen Kleid, das ich trug, verfangen hatte. Nach einigem Verdrehen und unsanftem Zerren konnte ich ihn endlich vom dünnen Stoff entfernen, doch ich spürte, dass an der Stelle, wo mich der Baum mit seinem kalten Finger gepackt hatte, nun ein Loch aufgerissen war. Ich ärgerte mich nur kurz und beeilte mich, weiter zu gehen.
Ich stolperte durchs Unterholz und als ich an einem kleinen Teich angekommen war, war mein Kleid von Brombeersträuchern zerrissen. Ich ließ mich erschöpft auf das Moos neben dem Wasser sinken und legte mein Gesicht in meine mittlerweile wunden und schmutzigen Hände. Ich war schon stundenlang unterwegs und stellte mir endlich die Frage: Wohin gehe ich? Die Antwort: Keine Idee. Das war immerhin kein Anfang… Auf einmal kamen mir immer mehr Rätsel in den Kopf. Was würde ich tun, wenn es Nacht wird? Was würde ich tun, wenn es hier gefährliche Tiere gibt? Was würde ich tun, wenn ich je wieder aus diesem Wald herausfinden würde? Die letzte Frage beschäftigte mich am meisten, denn ich hatte keinerlei Anhaltspunkte über meine Identität oder meine Herkunft, geschweige denn, wo ich mich in diesem Moment befand. Das einzige, was mir geblieben war, waren meine Sprache, von der ich allerdings keine Ahnung hatte, welche es war, der weiße Stofffetzen, den ich trug, und die schattenhafte Erinnerung an das feuerrote Kleid.
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Geschichtenerzähler
Short StoryDies ist ein Buch voller Kurzgeschichten, die von euch kommen. Jeden Monat gibt es ein neues Thema für euch, zu dem ihr eine Kurzgeschichte verfassen könnt. Mit dieser habt ihr dann die Möglichkeit zum/r Geschichtenerzähler/in des Monats zu werden...