6. April - jollyhepcourse - Fluss der Zeit

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Ich treibe. Treibe durch ein Meer aus Bildern. Nein. Das ist kein Meer. Sondern ein Fluss. Die Strömung trägt mich sanft dahin. Ich bewege mich nicht und bin ruhig, obwohl ich unter der Wasseroberfläche bin. Meine Augen sind an einer Reihe von Bildern hängen geblieben, die mir seltsam bekannt vorkommen. Mit abwesendem Blick mustere ich sie. Ist das da nicht das Fahrrad, das ich zu meinem sechsten Geburtstag bekommen habe? Und auf dem Bild dort! Das ist ganz eindeutig meine Mutter, die mich nach einem Sturz von eben diesem Fahrrad tröstet. Langsam drehe ich meinem Kopf auf die andere Seite. Ich treibe immer noch wie schwerelos durchs Wasser. Vor mir leuchtet ein rotes Kleid auf. Ich habe es zu meiner Einschulung getragen. Ein Wunder, dass ich mich daran überhaupt noch erinnere. Ich sehe mir immer mehr an und versuche, soviel wie möglich zu erfassen. Doch die Eindrücke sind einfach zu zahlreich. Überall sind Momente meines Lebens. Meine Konfirmation. Der vierte Geburtstag meiner kleinen Schwester. Als ich mich noch einmal daran erinnere, wie sie sich damals über ihre überdimensionale Torte mit rosa Zuckerguss freute, erscheint prompt das eben genannte Gebäck zwischen den anderen Augenblicken. Das zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen. Ich scheine das Geschehen hier steuern zu können. Das muss ich gleich noch einmal ausprobieren. Ich krame in meinem Kopf nach einer Erinnerung. Schließlich konzentriere ich mich mit geschlossenen Augen auf einen Strandtag, an dem ich den wahrscheinlich schönsten Sonnenuntergang meines Lebens gesehen habe. Doch nichts erscheint vor meinem inneren Auge. Enttäuscht schlage ich die Lider auf und muss sie direkt wieder schließen, denn irgendetwas blendet mich. Vorsichtig blinzele ich und erblicke ihn zum zweiten Mal. Die Sonne ist schon halb hinter dem Horizont versunken und der Himmel ist beeindruckend gefärbt. Glühendes rot, flammendes orange, strahlendes gelb, zartes rosa und dazwischen unzählige, nicht minder schöne, Abstufungen. Ich kann mich gar nicht satt sehen, doch die Strömung zieht mich unerbittlich weiter, bis ich nur noch ein leichtes Schimmern erkenne. Ich versuche beinahe verzweifelt, das Panorama zurück zu holen, aber scheinbar ist  jedes Bild nur für einen Blick bestimmt. Denn nichts im Leben wiederholt sich. Nichts wiederholt sich…

Ich könnte nicht sagen, wieviel Zeit vergangen ist und ich habe schon fast meine ganze Lebenszeit Revue passieren lassen. Ich sehe gerade ein relativ neues Ereignis, mich und meine Freunde, wie wir meinen achtzehnten Geburtstag feiern. Eine ziemlich wilde Party, mit reichlich Alkohol. Ich höre noch die laute Musik in meinen Ohren. Die nächste Erinnerung zeigt ein Auto, plötzlich rast ein zweites direkt auf es zu und augenblicklich wird alles dunkel. Nicht nur auf dem Bild, sondern auch um mich herum ist auf einmal alles tiefschwarz. Plötzlich flammt ein Licht auf. Zuerst denke ich, der Sonnenuntergang ist doch wieder zurückgekehrt, doch ich bemerke schnell, dass ich falsch lieg. Dieses Licht ist eine große, fast weiß leuchtende, Kugel, die eine unglaublich angenehme Wärme ausstrahlt. Der nun bilderlose Fluss schwemmt mich genau auf es zu. Kurz vor ihm halte ich an. Es wirkt einladend und ich kann meine Augen nicht von ihm abwenden. Doch wie aus dem Nichts schießt eine Erkenntnis durch meinen Kopf. Das, was ich gerade gesehen habe, ist mein eigener Tod.    

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