06 | ava

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»Möchtest du etwas trinken?« Ohne auf eine Antwort zu warten, geht Noah mit schnellen Schritten voraus und verschwindet in dem nächsten Raum. Ich bleibe unbeholfen im großen Eingangsbereich stehen. Mein Kopf dreht sich nach allen Seiten um, ich erkenne eine Treppe, die ins Obergeschoss führt. Der Eingangsbereich ist offen und führt direkt ins Wohnzimmer. Daneben liegt die mit einem großen Türbogen abgegrenzte Küche.

Ich halte meinen Rucksack an der Brust fest umklammert. Was tue ich hier? Ich ziehe meine Unterlippe zwischen die Zähne und kaue darauf herum. Eigentlich hätten wir unser Interview wieder in der Schule führen sollen, aber kein einziger Raum ist dieses Mal freigewesen. Nein, streicht das. Ich hatte mich in die Raumliste eingetragen, aber Mrs. Hudson, die Leiterin der Theater-AG meinte, dass sie den Raum viel dringender brauche, als ich es täte. Blöde Schnepfe; hat einfach ihre Lehrerkarte gespielt.

Kurz standen Noah und ich unschlüssig im Schulflur rum, bis er eigenständig die Entscheidung getroffen hat, dass wir zu ihm gehen. Im ersten Moment bin ich von der Idee nicht begeistert gewesen, aber eine bessere Alternative ist mir nicht eingefallen. Und da Noah nicht weit von der Schule entfernt wohnt, hat es sich noch mehr angeboten. Doch jetzt stehe ich hier, wie bestellt und nicht abgeholt im Wohnzimmer.

Aus der Küche höre ich ein Klirren, dann das Rauschen des Wasserhahns. Wenige Sekunden später steht Noah vor mir und drückt mir ein kühles Glas Wasser in die Hand. Er sagt kein einziges Wort, stopft seine Hände in die Hosentaschen und starrt überall hin. Bloß nicht zu mir. Ist es ihm unangenehm, dass ich bei ihm bin? Ich unterdrücke ein Seufzen. Dann hätte er mich nicht zu sich einladen sollen.

Vorsichtig nippe ich am Wasser, dabei schweifen meine Augen im Wohnzimmer hin und her, bleiben an einer Bildergalerie auf der großen Kommode hängen. Aus dieser Entfernung kann ich keine Gesichter erkennen. Um die grässliche Stille zu unterbrechen, stelle ich die erste Frage, die mir in den Sinn kommt. »Sind deine Eltern noch arbeiten?« Ich räuspere mich und nehme noch einmal schnell einen Schluck.

Noah zuckt zusammen, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Hart presst er seine Lippen aufeinander, die Kiefermuskeln stechen dabei weiß hervor. Verdutzt halte ich das Glas vor meinen Lippen an. Habe ich was Falsches gesagt? Ich versuche, meinem Gegenüber in die Augen zu schauen, neige meinen Kopf zur Seite, wobei mir ein paar Haarsträhnen über die Schuler fallen. »Noah?«

»Ich ... Also ... Meine –« Es tut schon fast schmerzlich weh, wie Noah um die passenden Wörter ringt. Ein schlechtes Gewissen macht sich in mir breit. War die Frage zu persönlich, habe ich was falsch gemacht? Scharf zieht er die Luft ein. »Meine Tante hat eine Spätschicht.«

Im ersten Moment möchte ich nicken. Doch ein Wort passt nicht in seinen Satz. Seine Tante? Warum spricht er über seine Tante? Tausende Fragen prasseln auf mich ein und ich beobachte, wie Noah schützend seine Arme vor der Brust verschränkt. Er tut alles, um meinen Blicken auszuweichen.

»Du wohnst bei deiner Tante?«

»Ja ...«

Das »Warum?« kommt schneller aus meinem Mund geschossen, als ich überhaupt nachdenken kann.

Gott, Ava, bisschen mehr Feingefühl!

Noahs Blick verschleiert sich. Seine sonst so schimmernden braunen Augen wirken schlagartig stumpf. Bei diesem Anblick breitet sich eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper aus. Vor mir steht nicht mehr der perfekte Volleyballspieler, der immer einen frechen Spruch auf den Lippen hat.

Nein.

Hier steht plötzlich ein eingeschüchterter Junge, der seine Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und die Arme fester um sich geschlungen hat. Es schreit förmlich danach, dass er sich aus dieser Situation retten möchte. Sein Blick fährt ruhelos hin und her, findet keinen Anhaltspunkt.

Chasing DreamsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt