16 | ava

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»Ava, es ist für dich«, ruft meine Mutter die Treppe rauf, nachdem es vor wenigen Sekunden geklingelt hat. Schnell zerre ich noch eine Sweatshirt-Jacke aus dem Kleiderschrank, ehe ich mit hektischen Schritten die Treppe runterlaufe. Mein Herz schlägt schneller, als ich im Eingangsbereich Noah stehen sehe, wie er sich mit meiner Mutter unterhält.

Ich verstehe nicht, worum es geht, aber ich kann im Gesicht meiner Mutter erkennen, wie sehr sie sich freut, den früheren kleinen Nachbarsjungen wiederzusehen. Mit den Händen deutet sie an, wie klein er damals war, und jetzt überragt er sie um eine gute Kopflänge.

Noah nickt ab und zu, seine Schultern sind minimal nach vorne gesackt, die Hände in den Hosentaschen vergraben und seine Lippen ziert ein leicht schüchternes Lächeln. Vor Aufregung hätte ich fast die letzte Treppenstufe verpasst, kann mich jedoch zum Glück noch abfangen und stolpere den kurzen Abstand zu Noah rüber.

Er wirft mir ein belustigtes Grinsen zu. »Nicht so stürmisch, rasende Reporterin.«

Blödmann, denke ich und kann nicht verhindern, dass meine Wangen heiß werden, und eine Wärme sich in meinem Körper ausbreitet. O Gott, ist das peinlich und das noch vor den Augen meiner Mutter. Grummelnd schlüpfe ich in meine weißen Sneakers, um auf Noahs Kommentar nicht antworten zu müssen.

»Viel Spaß euch beiden.« Meine Mutter grinst mich an und ich kann sehen, wie ihre Augen funkeln. Zum Glück steht mein Vater nicht hier, der hätte Noah bestimmt einem Interview unterzogen. Ich habe bis jetzt keinem erzählt, wie nahe Noah und ich uns nun stehen. Aber ich weiß auch, dass meine Mutter nicht auf den Kopf gefallen ist und eins und eins zusammenzählen kann. »Und bleib nicht so lange weg«, wirft sie hinterher, aber richtet den Satz eher an Noah, als an mich.

Er lacht. »Ich bringe sie sicher nach Hause zurück, Mrs. Price.«

Als wir endlich das Haus verlassen haben und um die erste Straßenecke gebogen sind, bleibt Noah stehen, nimmt mein Gesicht behutsam zwischen seine Hände und drückt mir einen sanften, aber gleichzeitig forschenden Kuss auf die Lippen.

Ein Seufzen entweicht mir. Schmetterlinge fliegen wild in meinem Bauch herum, veranstalten geradezu eine Party. »Das wollte ich schon den ganzen Tag machen ...«, flüstert Noah nahe an meinem Gesicht, sodass ich seinen Atem an meinen Lippen spüren kann. Ich beuge mich vor, umschlinge mit meinen Armen Noahs Taille und küsse ihn fordernd zurück.

Ich wollte das auch schon den ganzen Tag machen. Jedoch sage ich es nicht, sondern zeige es ihm. Noch nie zuvor wollte ich jemanden so verzweifelt küssen wie Noah Carter. Mit seinen perfekt geschwungenen Lippen, die leicht rau sind.

Meine Knie fühlen sich an wie Wackelpudding und ich bin froh, dass er mich mit seinen starken Armen festhält. Ich öffne die Augen einen Spalt, nachdem ich mich von ihm zurückgezogen habe, und erkenne sofort das neckische Grinsen von Noah. Seine Lippen sind geschwollen rot und verführen dazu, ihn weiter zu küssen. Doch das Grienen kann er sich woanders hinstecken. »Hör auf so dämlich zu grinsen.« Grummelnd kneife ich ihm in die Seite.

»Aua!«

»Geschieht dir recht.« Mit gespielt ernstem Ton stemme ich die Hände in die Hüfte, kann aber nur für ein paar Sekunden die standhafte Miene aufrechterhalten. Dann entfleucht mir ein leichtes Kichern, während Noah mich mit seinen großen braunen Augen von oben bis unten betrachtet.

Schnaubend schüttelt er den Kopf, dann hält er mir seine Hand hin. »Komm.«
Ohne zu zögern, greife ich danach, weil ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann, er mich nicht irgendwo hinschleppt, wo ich nicht hinmöchte.

»Wo gehen wir hin?«, frage ich neugierig, während wir nebeneinander Händchen haltend den Gehweg hinab schlendern.

»Wirst du früh genug sehen.«

»Gibst du mir einen Tipp?«, hake ich weiter nach.

Noah schmunzelt. »Nö.«

Empört von der Antwort blase ich meine Wangen auf und nehme die Niederlage im Stillen an.

Wir gehen quer durch die Stadt und ich frage mich echt langsam, wohin Noah mich führt. Erst, als wir einen kleinen Feldweg entlanggehen und dann stehen bleiben, weiten sich vor Überraschung meine Augen. »Ein Spielplatz?« Mit gerunzelter Stirn schaue ich zwischen der rostigen Rutsche, der morschen Wippe und den quietschenden Schaukeln hin und her. Verwundert sehe ich dabei zu, wie Noah mit vorsichtigen Schritten über den Spielplatz schreitet und behutsam mit seinen Fingerspitzen die Eisenkette der Schaukel nachfährt.

Ich habe jetzt alles erwartet, aber nicht einen heruntergekommenen Spielplatz.

»Ich war hier früher oft.«

»Was meinst du?«

Seufzend dreht er sich zu mir um und ich erkenne wieder diesen Schmerz in seinen Augen. Aber jetzt – endlich! – kann ich zuordnen, wofür er steht. Das macht es leider nicht besser, denn ich habe das Gefühl, den Schmerz intensiver zu spüren. Nachzuvollziehen.

»Immer, wenn ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten oder mich die Kinder in der Schule zu sehr schikaniert haben, bin ich hierher geflüchtet. Hier war nie jemand. Das hier ...«, er dreht sich einmal um seine eigene Achse und breitet die Arme aus, »... das war mein Reich. Meine Ritterburg.«

Und jetzt verstehe ich, was wir hier machen. Noah öffnet sich weiter, erzählt mir von seiner Vergangenheit, die er vor anderen Leuten immer perfekt versteckt hat. Mein Inneres zieht sich zusammen und gleichzeitig breitet sich eine Wärme in meinem Körper aus, weil er mir so sehr vertraut.

Vorsichtig gehe ich drei Schritte auf ihn zu und bleibe dann wieder stehen.

»Wie hast du es gefunden?«

Mit einem gequälten Lächeln lässt sich Noah auf eine Schaukel fallen und deutet, dass ich mich auf die andere setzen soll. Kurz zögere ich. Kann das alte Ding nicht einbrechen? Doch dann überwinde ich mich und setze mich hin. Das Gerüst gibt ein leises Stöhnen von sich, bleibt aber still und standhaft.

»Zu Hause ist wieder alles exaltiert und dieses Mal völlig. Mein Vater war sturzbesoffen und hat die Bierflaschen gegen die Wohnzimmerwand gedonnert. Meine Mutter hat ihn angeschrien. Ich weiß nicht, was ich getan habe. Aber plötzlich hat sie mich angeschaut und mir mit der Rückseite ihrer Hand eine gescheuert. Sie hatte einen Ring an dem Finger und hat mir somit eine Narbe verpasst. Aber das ist mir erst später aufgefallen. Ich bin nur gerannt, bis ich hier ankam.« Gedankenverloren streicht er mit dem Zeigefinger eine Stelle an seiner Augenbraue nach.

Ich runzle die Stirn. Mir ist dort nie eine Narbe aufgefallen. Vorsichtig stehe ich auf und stelle mich direkt vor ihm hin. Dieses Mal muss er hochschauen, um mir in die Augen schauen zu können. Seine braunen Augen schimmern wässrig, das Mondlicht lässt sie wie ein offenes Meer wirken.

Behutsam fahre ich mit meinen Fingern durch seine Haare und spiele mit ein paar Strähnen. Er schluckt. »Weißt du, jedes Mal habe ich mich gefragt, was ich getan habe. Warum mich meine Eltern so hassen ...«, krächzend schließt er seine Augen. »Und dann wusste ich die Antwort .... es liegt an meiner Existenz.« Am Ende des Satzes bricht seine Stimme weg und fast wäre ich vor ihm auf die Knie gefallen.

Dieser Satz, er wiegt so viel. Er hat so viel Ballast, wie konnte Noah all die Jahre diesen Gedanken mit sich herumtragen? Ein dicker Kloß hängt mir im Hals, schnürt mir die Luft ab. »Nein, Noah ...«, flüstere ich mit zittriger Stimme und beuge mich zu ihm runter. Die Hände habe ich um seine beiden Wangen gelegt, spüre, wie nass sie plötzlich werden. »Es war nie deine Schuld, hörst du mich?«

Mein Gesicht schwebt vor seinem, während ich ihm tief in die Augen schaue. »Du warst ein Kind und Kindern darf nie so etwas angetan werden. Du bist ein toller Mensch, du hast dein Herz am rechten Fleck. Okay?«
Er nickt. »Jetzt habe ich unser Date versaut.« Ein Schluchzen rutscht ihm über die Lippen, während er leise lacht. »Tut mir leid ...«

»Nein, es tut mir leid, dass du nach all den Jahren immer noch solch einen Schmerz mit dir herumträgst.« Vorsichtig, als wäre er aus Glas, hauche ich ihm einen Kuss auf die Lippen.

Sein Atem ist zittrig, als er ausatmet. »Connor meint, ich sollte mit einem Therapeuten drüber sprechen.«

Überrascht reiße ich die Augen auf und lehne mich ein Stück zurück, um Noah besser betrachten zu können. »Hast du das nie?«

»Nein.« Schulterzuckend blickt er auf den Boden. »Ich habe es nie für nötig gehalten. Aber jetzt ... jetzt glaube ich, dass es an der Zeit wäre.«

Blind taste ich nach seinen Händen. »Ich bin bei dir.«
Ich werde mit ihm alles herausfinden, bei ihm sein, wenn er wieder in die tiefe Dunkelheit stürzt. Ihn auffangen und ihm aufhelfen, wenn er eine Hand braucht. Er hat mich in seine Welt gelassen, vertraut mir und ich werde es nicht missbrauchen.

 Er hat mich in seine Welt gelassen, vertraut mir und ich werde es nicht missbrauchen

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Ein kleines Kapitel zum Füllen, aber mit so viel Emotionen. 🥺 Achja, jedes Mal tut mir Noah aufs Neue leid ... und ich bin ja eigentlich, die, die ihm das antut. Hahaha😵

Wie immer hoffe ich, dass euch das Kapitel gefallen habt. Ich wollte mich wieder für die ganzen Votes & Kommentare bedanken. Ohne euch wäre die Geschichte jetzt auch nicht da, wo sie ist. Also: D A N K E 😍🥰😘

Eure A. 😊

 😊

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Chasing DreamsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt