„Sorry, kannst du kurz auf meine Sachen aufpassen, Adi?", spricht mich meine Kommilitonin Sarah an, nachdem sie mir auf die Schulter getippt hat. Ich nicke leicht lächelnd und schaue zu, wie sie vom Tisch aufsteht und quer durch die Uni-Bibliothek in Richtung Toilette verschwindet. Ich wende mich wieder meinem Laptop zu und mache mir meinen rechten Airpod wieder ins Ohr. Vorsichtshalber mache ich meine Musik aber drastisch leiser und schaue immer wieder zu dem verlassenen Platz rechts neben mir, falls sich doch ein Dieb nähert. Was natürlich irgendwo Unsinn ist, doch man weiß ja nie. Nebenbei versuche ich irgendwie zu lernen, was eher schlecht als recht funktioniert. Aber immerhin habe ich in letzter Zeit sehr viel verpasst und muss dringend alles aufholen. Erst die Tage in Warnemünde, dann die Tage, an denen ich mich in Felix Wohnung versteckt habe, und die letzten Abende, wo ich nicht nacharbeiten konnte, weil ich in der Bar arbeiten musste. Deshalb sitze ich nicht nur heute, sondern auch schon die restlichen Nachmittage in der Bibliothek fest und sehe Felix eigentlich kaum. Wenn ich ins Bett komme, dann muss er nach zwei Stunden wieder aufstehen, wenn ich nach der Uni und Bibliothek kurz nach Hause komme, ist er noch immer im Büro. Es ist etwas schwierig, aber sobald ich alles nachgearbeitet habe, wird es hoffentlich besser. Sobald der Monat vorbei ist, wird es sowieso entspannter, denn dann muss ich nicht mehr in der Bar arbeiten. Felix hat darauf bestanden, dass ich kündige. Ehrlich gesagt, bin ich etwas erleichtert, dass er mich dazu ermutigt hat, denn große Lust hatte ich nicht mehr und zu viel Zeit hat es auch in Anspruch genommen. Es war also nur die richtige Entscheidung für mich, auch wenn Felix es vermutlich wegen seines Stolzes gemacht hat. Er fand es ja nie gut, dass ich gearbeitet habe, weil er ja für uns sorgen möchte. Naja, kann er machen, aber nur solange ich studiere. Danach verdiene ich genug.
„Danke, Adi", meint Sarah, als sie sich gerade wieder neben mich plumpsen lässt. Ich lächle nur kurz und schaue dann fast sofort wieder nach vorne, um meinen Gedanken weiter nachzuhängen. Würde Felix überhaupt akzeptieren können, dass ich viel arbeiten werde, gut verdiene und nicht wirklich auf ihn mehr angewiesen bin. Er scheint es ja irgendwie zu brauchen, jemanden zu haben, den er versorgen kann. Aber er wird es akzeptieren müssen. Plötzlich steht der Typ, der mir gegenüber saß, auf und löst mich so aus meinen Gedanken. Durch den freien Platz, habe ich den perfekten Blick auf die Bücherregale und die Wendetreppe, die hier nach oben unter das Dach führt. Doch ich richte meine Augen lieber wieder auf meinen Laptop und tippe weiter, bis meine Augen auf das Datum rechts oben auf dem Bildschirm fallen. Es ist Mittwoch, heute wäre die Therapie. Seit einer Woche habe ich nichts von Minho gehört oder auch nur gesehen. Ich werde sicherlich nicht hingehen, dafür wäre es jetzt auch eh viel zu spät. In einer halben Stunde würde sie beginnen. Ich seufze tief, nehme meine Airpods raus, lege mein Gesicht in meine Hände und atme mit geschlossenen Augen tief durch. Scheiße, ich dachte, es würde nicht mehr so doll weh tuen. Als ich Minho verletzt und gehen lassen hab, ich habe jeden verloren, den ich hatte. Benny und Vinc, meine eigentlich besten Freunde, die sich nicht mehr melden, da sie entweder gekränkt von meinem raschen Auszug sind oder auf Minho's Seite stehen. Keine Ahnung, ob Minho noch immer in meinem Zimmer wohnt oder nicht. Ich weiß nicht, was mir mehr weh tuen würde, dass er noch immer in meinem Bett schläft oder ausgezogen ist und sich so von mir entfernt hat. Es ist niemand mehr da für mich und eigentlich habe ich nur noch Felix. Er ist mein einziger Halt gerade, aber mit ihm über Minho sprechen, das kann ich natürlich nicht, also muss ich es einfach vergessen. Ihn einfach vergessen.
Ich schüttle den Kopf, öffne meine Augen und entferne meine Hände von meinem Gesicht. Ich werfe einen schnellen Seitenblick auf Sarah, die nichts mitbekommen hat, und dann wieder auf meinen Laptop. Meine Konzentration ist jedoch weg und widmet sich lieber allem anderem. Allem, was nichts mit meinem Studium zu tun hat. Ich sehe einen Schatten oder eher jemanden, der wohl gerade die Wendetreppe hochkommt. Mein Blick und meine Konzentration wenden sich dem direkt zu.
Als ich Haare und Gesicht desjenigen sehe, der gerade hochkommt, kriege ich einen gefühlten Herzinfarkt. Mein Herz stoppt, mein Atem wird flach und ich bin wie eingefroren, als ich Minho entdecke. In seiner dunkelblauer Jeans gepaart mit grauem Pulli und seinem Rucksack auf einer Schulter. Er wirkt, als hätte auch er schon viel gearbeitet, denn seine Haare sind unordentlich und zu aufgebauscht und die Lesebrille sitzt leicht schief auf seiner Nase. Ich sehe, wie seine Augen durch den Raum wandern und einen Platz suchen, die beschränkt heute sind. Sein Blick fällt auf den Stuhl mir gegenüber, der der einzige zu sein scheint in der Umgebung, dann scannen seine Augen den Tisch weiter ab. Vermutlich um zu schauen, ob die Studierenden, die hier sitzen, okay und aus haltbar sind. Unsere Blicke treffen sich und er bleibt schlagartig stehen. Mein Herz beginnt wieder zu schlagen. Zu schnell, zu kräftig, so, dass es fast wehtut. Minho steht mitten im Weg, lässt sich anrempeln und meckert nicht einmal, alles weil er wie eingefroren ist und mich anstarrt. Unser Blickkontakt hält gefühlt ewig, solange tut keiner etwas. Mich durchzucken unzählige Erinnerungen. Wie mich Minho im Arm hält und wir vor der Dönerbude tanzen, wie er mich ganz kurz in der Bar küsst, wir in meinem Bett liegen und kuscheln. Wir haben so viel erlebt und das tut weh. Die Erinnerungen sind wunderschön, aber zu wissen, dass es keine mehr geben wird und wir uns so schmerzhaft getrennt haben, das tut mir richtig weh. Und genau das lässt mich genauso erstarren, wie ihn. Ich kann mich nicht abwenden, auch wenn ich es gerne würde. Doch plötzlich legen sich Hände so um mein Gesicht, dass sie meine Augen bedecken und Minho verschwinden lassen. Ich wünschte, es würde ewig anhalten oder wenigstens bis Minho wieder verschwindet.
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strange[r] love
RomanceAdelaine und Minho. - a strange love between two strangers- Zwei Menschen, die sich niemals kennengelernt hätten. Zwei Menschen, die das Schicksal so nicht füreinander vorgesehen hat. Adelaine, eine hart arbeitende Studentin mit zwei Jobs, um sich...