Kapitel 19

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Der grüne Stein musste sicher aufbewahrt werden, das wusste Bruno mit Sicherheit. Er würde ihm einen Ehrenplatz in der Kammer für die Steine geben. Er ging durch einen Seiteneingang in einen grünleuchtenden Raum. Er hatte alle Visionen, die er je gesehen hatte, dort aufbewahrt. Von seiner aller ersten bis zu die von Andres waren alle da. Sie stapelten sich bis zur Decke, aber einen Platz hatte er immer freigehalten; eine steinerne Anrichte, die in der Mitte des Raumes stand. Er hatte sich einst geschworen, dass er den Platz nur für die schönste aller Visionen benutzen würde, und er war sich ziemlich sicher, dass es nun so weit war.

Er legte die Vision vorsichtig auf den Boden und wischte den Sand und Staub von der Anrichte. Der Stein passte perfekt auf die Anrichte und Bruno lächelte bei dem Bild von Lucia, wie sie aus einem Buch vorlas.

Er wünschte sich diese Zukunft so sehr.

Wind hallte in den deckenhohen Raum umher und Brunos Atmen echote. Da ertönten leise Schritte hinter sich und ein Raunen. „Wow", hauchte Lucia und bestaunte die vielen grünen Steinen. „Sind das alle Visionen, die du jemals gesehen hattest?"

„Ja – fass das nicht an!", aus dem Augenwinkel hatte Bruno gesehen, wie Lucia ihre Hand nach einem Stein ausgestreckt hatte. Sie blieb mitten in der Bewegung stehen und zog ihre Hand langsam zurück. „Perdón", sagte sie. „Die leuchten nur so"

„Ich mag es nicht, wenn jemand die Steine berührt", gestand Bruno. „ich habe das Gefühl, dass das die Vision vielleicht noch schlimmer machen könnte."

„Ach, Bruno", seufzte Lucia und schloss ihn in seine Arme. „Mein kleiner Bruno"

„Ich bin nicht klein"

„Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, dann bin ich größer als du.", sie demonstrierte es.

Bruno stellte sich ebenfalls auf Zehenspitzen und drückte ihre Schultern sanft runter. „Vergiss es", sagte er. Er küsste sie auf die Stirn. „Meine Locken machen mich ungefähr einen Zentimeter größer."

Lucia lachte. „Das kann ich dir nicht nehmen, was?"

„Nein", Bruno lächelte. Er küsste ihre Stirn und drehte sie im Kreis.

„Das sind all deine Visionen?", fragte Lucia, während sie sich an Bruno anlehnte; ihr wurde leicht schwindelig, hatte Bruno mittlerweile gelernt.

Er nickte. „Jede, die ich jemals in meinem Leben hatte."

„Auch deine allererste? Darf ich sie sehen?"

Bruno nahm ihre Hand und führte sie zum untersten Regal und kniete sich auf den Boden. „Sie müsste hier irgendwo sein ...", murmelte er, während er die Reihen durchging. „Aha!", er hatte sie gefunden, seine erste Vision.

Lucia setzte sich neben ihn hin und schaute ihm neugierig über die Schulter. „Bist das du?", fragte sie und deutete auf den kleinen Jungen, der seinen blutenden Finger hielt.

„Ja", sagte Bruno gedehnt. „Da war ich fünf."

„Wie süß.", Lucia kniff ihm in die Wange. „Die ganzen Abuelas in Encanto fanden dich bestimmt entzückend. Was hast du damals gesehen?"

„Also, sagen wir mal so ... Amigo und seine Familie war nicht immer so zutraulich gewesen. Es hatte mich sehr viel Zeit und Finger gekostet, um ihnen zu erklären, dass ich ihr Freund bin.", er strich über den Stein. „Trotz dieser Warnung aber hatte ich mich nicht aufhalten lassen und habe die Ratten gestreichelt. Am Ende haben wir dann auch Julietas Gabe herausgefunden.", er lachte leise.

„Du hast also deine Zukunft gesehen und dich trotzdem dafür entschieden, nichts dagegen zu machen?", fraget Lucia langsam.

„Ja, ich meine, was hätte ich tun sollen?", Bruno verstand diese Frage nicht. „Immerhin waren es süße kleine Ratten, Lucia. Du hättest dich auch nicht zurückhalten können, man musste sie einfach streicheln."

Ich sehe dich, BrunoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt