Ich bin der erste Schüler im Chemieraum. Mein Platz ist direkt vorne in der ersten Reihe. Chemie ist das einzige Fach, in dem ich mich nicht möglichst weit nach hinten gesetzt habe, weil es mein Lieblingsfach ist.
Bisher haben wir zwar nur Stoff aus der Mittelstufe wiederholt, den ich schon kann, aber bald machen wir hoffentlich auch neue Themen. Nächstes Jahr werde ich Chemie als Leistungskurs wählen und ich freue mich schon darauf.
Unsere Lehrerin ist etwas älter und hat ihre gräulichen Haare immer zu einem Dutt hochgesteckt. Meine Klasse findet sie merkwürdig, aber ich finde sie sehr nett. Zu meinem Vorteil hat sie auch noch nie die Hausaufgaben kontrolliert.
Während die Stunde beginnt, höre ich mehr oder weniger leise Gespräche in meinem Rücken. Ich bin kurz davor, mich umzudrehen und etwas zu sagen und in meiner alten Klasse hätte ich das vielleicht sogar gemacht, aber ich halte mich zurück und schweige.
„Ich möchte euch heute gerne die Klausuren zurückgeben, die wir vor zwei Wochen geschrieben haben. Leider ist der Schnitt schlechter, als ich erwartet habe und es gab sogar einige Minderleistungen. Dafür hatten wir aber auch einmal fünfzehn Punkte. Herzlichen Glückwunsch, Noel."
Lächelnd nehme ich die Klausur entgegen. Fünfzehn Punkte sind gut. Wenn ich so weitermache, dann schaffe ich es vielleicht sogar auf fünfzehn Punkte im Zeugnis.
Frau Schiller fährt fort, die Klausuren aufzuteilen und ich höre einige enttäuschte Ausrufe. Hätten meine lieben Mitschüler lieber etwas besser aufgepasst.
Bald kommt sie zur letzten Klausur. „Dominik", sagt Frau Schiller mit einem unheilvollen Unterton in der Stimme, „Deine Klausur war leider die schlechteste der Klasse. Wenn du so weitermachst, wirst du in Chemie nicht bestehen."
Ich drehe mich wie alle anderen nach hinten um, um Dominiks Gesichtsausdruck zu sehen. Er hat die Augenbrauen gerunzelt und blickt eher unglücklich auf das Blatt in seiner Hand.
„Allerdings hast du noch eine Chance", fährt Frau Schiller fort und dreht sich zu mir nach vorne, „Noel, ich würde dich bitten, ob du Dominik vielleicht Nachhilfe geben könntest. Du hast das Thema sehr gut verstanden und du kannst Dominik sicher sehr helfen."
Im ersten Moment will ich reflexartig ablehnen. Ich habe mit Sicherheit keine Zeit Mister Obercool Nachhilfe in Chemie zu geben. Doch Frau Schiller lächelt mich so nett an, dass ich nicht ‚nein' sagen kann, also nicke ich.
„Kein Problem", murmele ich. Dominik schluckt und nickt ebenfalls. Frau Schiller guckt zufrieden und beginnt dann damit, die Lösungen mit uns zu besprechen.
Ich bin mir sicher, dass meine Entscheidung ziemlich unbedacht und schlecht war. Die Nachhilfe wird mich Zeit kosten, die ich eigentlich nicht habe.
Als ich als letzter den Klassenraum verlasse, erschrecke ich mich, denn neben der Tür wartet jemand. Es ist Dominik.
„Hey, ich wollte nur sagen, wenn du mir nicht helfen willst, ist das kein Problem. Ich krieg das schon irgendwie selbst hin", meint er, als wir nebeneinander nach unten laufen.
Das ist die Chance, ihn loszuwerden, doch ich zögere. Er wird es nicht alleine hinbekommen, das weiß ich. Auch in den anderen Fächern gehört er nicht wirklich zu den Besten, von Sport mal abgesehen.
„Nee, ist schon okay. Hast du morgen Nachmittag Zeit?", antworte ich. Währenddessen steuert Dominik den Innenhof an, wo er normalerweise die Pause verbringt. Den Ort, den ich so gut es geht vermeide.
„Eigentlich hab ich da Rudern. Geht auch wann anders?", fragt er zurück. Am liebsten würde ich stehenbleiben, doch ich folge Dominik durch die Tür in den Innenhof.
„Nee, sonst habe ich normalerweise immer etwas vor", murmele ich leise. Überall um mich herum sind Menschen und ich habe keine Chance, zu verhindern, dass mich jemand erkennt.
„Wenn es sonst nicht geht, dann eben morgen, nach der Schule?", meint er widerwillig, doch ich sehe, dass ich das eigentlich nicht passt.
„Wir können uns dann ja einfach in der Mediothek treffen" schlage ich vor und er nickt. Dominik steuert eine Bank an, auf der schon ein paar Jungen sitzen und sich angeregt unterhalten.
Ich will mich gerade umdrehen und gehen, als einer von ihnen aufspringt und auf uns zuläuft.
„Hey, Noel, lang nicht gesehen!", ruft er grinsend, doch ich sehe in seine Augen einen fragenden Blick.
„Hallo Kai", gebe ich zurück. Kai ist mein bester Freund aus der Mittelstufe und er weiß lauter Dinge über mich, die eigentlich niemand wissen sollte.
„Ihr kennt euch?", fragt Dominik verblüfft.
„Ja natürlich, wir waren sechs Jahre in derselben Klasse. Was hat Noel denn erzählt?", will Kai ungläubig wissen. Ich zucke die Schultern und starre auf den Boden.
„Apropos, wie geht es Lana?" Ruckartig hebe ich meinen Kopf wieder und gebe Kai mit einem Blick zu verstehen, dass er leise sein soll.
„Gut. Ich muss dann auch los, ich hab noch etwas zu erledigen." Ich wende mich an Dominik: „Also sehen wir uns morgen nach der sechsten Stunde in der Mediothek."
Ohne noch eine Reaktion abzuwarten drehe ich mich um und lief in den nächstbesten Gang. Nachdem ich sicher aus der Sichtweite von Kai bin, verlangsame ich meine Schritte und laufe wieder nach oben.
Von der Pause bleiben mir noch zehn Minuten und in denen will ich wenigstens ansatzweise den Text für meine Deutschhausaufgabe fertigschreiben.
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Nicht Normal
Teen FictionNoel ist es gewohnt, alleine zu sein. Er braucht keine Freunde und auch sonst niemanden außer seiner kleinen Schwester, um die er sich kümmert. Zu seinem Leidwesen muss er feststellen, dass er eben nicht alles alleine schaffen kann und dass sogar er...