XVII

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Es ist merkwürdig. Ich spüre Dominiks Blick ständig auf mir, aber die gesamte Woche versucht er nicht, mit mir zu sprechen. Dafür fragen laute Leute aus meiner Klasse, warum ich einen Vormund vom Jugendamt habe.

Am Freitag hat es sich schon im ganzen Jahrgang herumgesprochen und ich bin froh, dass ich endlich nach Hause kann. Dort bin ich alleine und keiner stellt irgendwelche Fragen.

Abends arbeite ich nach meiner krankheitsbedingten Pause zum ersten Mal wieder im Rainbow. Leo freut sich sichtlich, mich wiederzusehen und Lisa umarmt mich zuallererst stürmisch.

Wie jeden Freitag drängen sich dutzende Menschen im Rainbow und mir bleibt keine Zeit, um nachzudenken. Das habe ich in den letzten Tagen genug gemacht und die vertrauten Handgriffe und Gesichter fühlen sich irgendwie befreiend an.

Ich fülle Gläser, spüle Gläser und lächele den Gästen zu. Mein erstes eigenes Bier hole ich mir schon nach einer halben Stunde und als mich kurz vor Ende meiner Schicht ein gutaussehender junge Mann anspricht, sind es bestimmt schon drei.

Der Raum verschwimmt in den Farben der regenbogenbunten Lichter. Vielleicht liegt es an dem Alkohol, der langsam meinen Kopf erreicht, vielleicht liegt es an dem ganzen Stress der letzten Woche, aber zum ersten Mal seit einem Monat lasse ich mich auf die Flirtversuche ein.

Er stellt sich als Matthias vor, ein Student aus der Nachbarstadt, der zum Feiern im Rainbow vorbeischauen wollte. Er wartet lächelnd, bis ich abgelöst werde, dann zieht er mich an der Hand mit auf die Tanzfläche.

Gemeinsam fangen wir an, uns mehr oder weniger im Rhythmus der Musik zu bewegen. Er sieht unglaublich gut aus beim Tanzen . Das würde ich von mir nicht behaupten, aber entweder ist er zu angetrunken, oder es ist ihm egal.

Nach drei Songs beginnt er, mir langsam näher zu kommen. Klar, es ist eng hier, aber nicht so eng, dass unsere Körper sich berühren müssten. Nicht, dass es mich stören würde.

Ein langsamerer Song beginnt und Matthias legt mir die Hände an die Hüfte, um mich näher zu sich zu ziehen. Als Antwort verschränke ich meine Hände hinter seinem Kopf. Wir sind uns so nah, dass ich die Hitze seines Körpers durch den Stoff meiner Klamotten spüren kann.

Als das Lied endet, bleiben wir so stehen und nach einigen Sekunden beugt er schließlich den Kopf langsam zu mir nach unten.

Dann zögert er jedoch kurz, deswegen überbrücke ich den letzten Abstand zwischen unseren Lippen und lasse meine Hände langsam von seinen Schultern nach unten rutschen.

Er keucht leise, als ich sie in seinen Hintern kralle und ihn direkt zu mir ziehe, sodass kein Blatt mehr zwischen uns passen würde. Nicht, dass wir Abstand wollen.

Ich beiße fordernd in seine Lippe und öffne intuitiv für eine Sekunde meine Augen. Mein Blick bleibt an einer ganz bestimmten Person hängen, die zu sehen ich nicht erwartet hatte. Als würde er mich verfolgen.

Trotzdem unterbreche ich den Kuss nicht und warte ab, ob er mich überhaupt bemerkt. Das tut er auch, aber es dauert einen Moment. Dann starrt er mich direkt an und sein Blick schneidet in meine Augen.

Wie um mir selbst zu beweisen, dass es mich nicht stört, schiebe ich meine Zunge in den Mund meines Gegenübers. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ich dabei jetzt Dominik vor Augen habe.

Er wendet sich ab und ich frage mich, ob sein Blick gerade verletzt war oder ob die Lichter und der Alkohol mich täuschen. Dominik verschwindet in der Menge und sofort unterbreche ich den Kuss.

Matthias protestiert, doch ich ignoriere es und löse mich von ihm. Wie um meine Gefühle zu unterstreichen läuft „Miss You" währen ich fluchtartig den Club verlasse.

Die kalte Nachtluft hilft kaum und meine Gedanken drehen sich pausenlos im Kreis. Warum habe ich aufgehört Matthias zu küssen, als ich Dominik gesehen habe?

Es ist ja nicht so, dass ich zum ersten Mal mit einem Fremden im Rainbow rumgemacht hätte. Eine Zeit lang habe ich sogar fast jeden Abend beendet, indem ich mir jemanden zum Flirten gesucht habe.

Das hat wieder aufgehört, als es mir öfter zu weit gegangen war, aber heute habe ich das Bedürfnis, etwas Neues auszuprobieren. Zurück ins Rainbow kann ich nicht, ich will Dominik nicht noch einmal begegnen, aber es gibt noch andere Clubs in der Stadt.

Selbst wenn ich dort keinen Typen finde, auch ein Mädchen wäre für den Moment ausreichend. Als ich das denke, bin ich überrascht, wie schnell ich bereit bin, etwas zu tun, das ich nüchtern nie tun würde. Oder, wenn ich mir nicht beweisen wollte, dass ich es kann.

Wie schafft es Dominik bloß, etwas Derartiges in mir auszulösen?

Nicht NormalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt