XVI

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Am Montag gehe ich wieder in die Schule. In meinem Rucksack liegt eine Entschuldigung mit einer neuen Unterschrift. Frau Fischer hat vorläufig die Vormundschaft für mich, vermutlich bis ich volljährig werde und leider kann ich meine Entschuldigungen jetzt nicht mehr einfach selber unterschreiben.

Vor der ersten Stunde fängt Dominik mich im Flur ab. „Noel, was haben sie gesagt?", will er wissen.

Ich funkele ihn drohend an. „Lass es einfach! Wenn du nicht da gewesen wärst, wäre das alles nicht passiert! Ich habe dir vertraut und ich mochte dich wirklich! Lass mich bitte in Ruhe!"

Dominik sieht verletzt aus, doch ich finde, dass meine Wut gerechtfertigt ist. Lana war zwar am Sonntag tagsüber bei mir, aber sie schläft in einer Pflegeeinrichtung und ich weiß, dass ihr das nicht gefällt.

„Noel, bitte", fleht Dominik, doch ich dränge mich an ihm vorbei und gehe in den Klassenraum.

Natürlich haben wir in der ersten Stunde mal wieder Herrn Fischer. Irgendwie rast mein Herz, nach dem Gespräch und ein Blick zu Dominik, der schweigend in den Raum kommt, macht es nicht besser.

Schon steht Herr Fischer vor meinem Tisch. „Noel, hast du eine Entschuldigung für dein Fehlen letzte Woche?", will er wissen.

„Kann ich die ihnen nach der Stunde geben?", ich spüre, wie mir Blut ins Gesicht schießt und knete nervös meine Hände. Herr Fischer sieht mein Unbehagen ganz genau.

„Ich sehe keinen Grund, warum du mir die Entschuldigung nicht einfach jetzt geben kannst. Hier gibt es keine Extrawürste. Das gilt übrigens auch für dich, Dominik."

„Hier", meint Dominik rau und hält Herrn Fischer einen Zettel vor die Nase. Er nimmt ihn und bleibt dann abwartend vor mir stehen. Also klatsche ich ihm meine Entschuldigung in die Hand.

Anstatt nach vorne zu seinem Pult zu gehen und mit dem Unterricht zu beginnen, liest er sich alles zuerst aufmerksam durch und sein Blick stockt bei der Unterschrift.

„Wer hat das unterzeichnet?", fragt er lauernd. Er starrt mich direkt an und ich senke den Blick.

„Mein Vormund", murmele ich fast unhörbar.

„Wer?", widerholt er.

„Mein Vormund vom Jugendamt hat die verdammte Entschuldigung unterschrieben! Sind sie jetzt zufrieden?", schreie ich halb und stehe ruckartig auf, „Ich gehe auf die Toilette."

Bevor Herr Fischer noch etwas erwidern kann, bin ich schon aus dem Raum gestürmt. Meine Hände zittern und mein Blick verschwimmt leicht. Vom Schreien tut mein Hals wieder mehr weh und ich will nur noch weg.

Leider kann ich nicht einfach gehen, weil ich sonst schwänzen müsste. Also laufe ich in das Herrenklo um die Ecke. Die ganze Doppelstunde kann ich nicht hier verbringen, aber ich kann Herrn Fischer gerade nicht in die Augen sehen.

In der Kabine lasse ich mich auf den Klodeckel sinken und atme zitternd aus. Ich will nicht weinen, doch ich kann die Tränen nicht aufhalten.

Herr Fischer hat mir demonstriert, dass ich keine Macht über mein Leben habe. Es fühlt sich furchtbar an, so hilflos zu sein.

Die Fliesen hinter mir sind kalt, als ich mich dagegen lehne und das ganze weiß tut in meinen Augen weh. Eine Weile schluchze ich leise, doch nach dem Wochenende sind kaum mehr Tränen übrig.

Nach vielleicht zehn Minuten geht die Tür auf. Erst denke ich, es ist nur irgendwer, der pinkeln muss, aber dann fragt eine leise Stimme: „Noel, bist du hier?"

Ich schweige, doch ich kann ein leises Husten nicht unterdrücken. Natürlich weiß Dominik sofort, dass ich hier bin und er stellt sich direkt vor die Kabinentür.

„Noel, bitte mach auf", verlangt er.

„Nein! Geh weg!", murmele ich leise. Dabei will ich eigentlich nicht, dass er geht und vielleicht ignoriert er gerade deswegen einfach meinen Widerspruch.

„Du weiß, dass man diese Türen auch von außen aufkriegt, wenn man will? Mach auf, oder ich mache es", antwortet Dominik sofort.

Als ich mich nicht rühre, sehe ich, wie er sich tatsächlich am Schloss zu schaffen macht. „Herr Fischer wollte, dass ich dich suche", meint er währenddessen, „Er möchte, dass du zurückkommst."

„Nein", flüstere ich und merke, dass meine Augen wieder feucht werden. Ich sehe nicht, wie Dominik die Tür öffnet, weil ich meine Augen geschlossen habe, aber ich merke, wie er vor mir stehenbleibt.

„Noel, es tut mir so leid. Bitte! Du weißt, dass das nicht meine Absicht war und ich wollte wirklich nicht...", er stockt, als ich den Kopf schüttele.

„Lass es einfach", bringe ich hervor, „Du hast alles kaputt gemacht." Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen.

Dominik wartet schweigend, bis ich die Augen öffne und aufsehe. Seine Augenbrauen sind gerunzelt und er sieht alles andere als glücklich aus. „Kommst du?", fragt er bloß.

Ich nicke und stehe auf. Mal wieder bleibe ich vor dem Spiegel stehen und betrachte mich. Rote Augen, weil ich schlecht geschlafen und geweint habe, aber ich sah schon schlimmer aus.

Ich frage mich unwillkürlich, ob Dominik das Gleiche sieht, wenn er mich anschaut. Bevor ich den Gedanken weiter fortführen kann, öffnet sich glücklicherweise die Tür.

Unglücklicherweise ist die Person, die die Tür geöffnet hat Herr Fischer. „Ich denke, du hast jetzt genug Zeit hier verbracht, Noel. Ihr kommt jetzt beide zurück in die Klasse, sonst trage ich euch die Zeit als Fehlstunden ein."

Ich will widersprechen, etwas entgegnen, doch Dominik berührt mich leicht am Rücken. Ein Kribbeln fährt durch meinen gesamten Körper und hält mich davon ab, etwas zu sagen. Vermutlich war das Dominiks Intention, aber er hat sie anders erreicht, als er wohl wollte.

Nicht NormalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt