XV

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Etwas zerbricht bei Dominiks Worten in mir. Vielleicht ist es das Vertrauen, das ich angefangen habe, zu ihm zu fassen oder der Rest meines Glaubens, dass ich vielleicht doch einen Freund gefunden hatte.

Tränen brennen hinter meinen Augen, als ich endgültig verstehe, was das zu bedeuten hat. Sie werden mir Lana wegnehmen.

Mit einem knappen Griff reiße ich Dominik meinen Schlüssel aus der Hand. „Raus!", flüstere ich tonlos. Dominik bleibt wie eingefroren stehen.

„Raus hier", brülle ich, „Verzieh dich! Geh weg!"

Endlich weicht er zurück, einen, zwei Schritte, dann dreht er sich wortlos um und zieht die Tür hinter sich vorsichtig zu.

Mein Herz rast und jetzt, da er weg ist, beginnen die heißen Tränen über mein Gesicht zu laufen. Immer noch tut mein Hals unglaublich weh und ich lasse mich zitternd im Flur auf den Boden sinken.

Ein Wimmern entschlüpft meinem Mund und ich habe keine Kraft mehr. Zusammengerollt und schluchzend bleibe ich auf dem Boden liegen.

Erst als meine Tränendrüsen ausgetrocknet sind und mir langsam die Kälte des Bodens bewusstwird, raffe ich mich auf. Ich darf mir nicht erlauben, nachzugeben und zu verzweifeln, solange Lana noch da ist.

Ich stolpere ins Bad, nur gestoppt von einem kleinen Hustenanfall. Im Spiegeln betrachte ich mich. Ich habe keine Ahnung, wann jemand vom Jugendamt hier auftaucht und ich sollte vielleicht nicht so die Tür aufmachen.

Meine Augen sind rot und ich sehe fast noch schlimmer aus, als am Montag. Also halte ich mein Gesicht zuerst unter kaltes Wasser und mache mich dann daran, mir etwas Sauberes zum Anziehen zu suchen.

Das Warten macht mich verrückt. Ich bin fertig und ich weiß nicht, was ich machen soll. Hat Dominik überhaupt die Wahrheit gesagt?

Er hat mir noch eine Nachricht geschickt und wider besseren Wissens öffne ich sie. Er schreibt, dass es ihm leidtut. Als ob mir das noch etwas hilft.

Ich bin so enttäuscht von ihm, dass ich fast wieder anfange, zu weinen, doch zum Glück klingelt es in dem Moment endlich an der Tür.

Mit rasendem Herz drücke ich auf den Öffner und mache dann schon einmal die Wohnungstür auf. Schritte ertönen auf der Treppe und eine Frau mit schulterlangen, blond gefärbten Haaren und einem freundlichen Lächeln kommt auf mich zu.

„Sind sie Noel Böger?", fragt sie und ich nicke. Mit der Hand bitte ich sie in meine Wohnung und nehme ihr dort die Jacke ab.

„Wollen sie einen Kaffee?", frage ich unsicher.

„Gerne", antwortet sie, „Wo möchtest du dich unterhalten?"

„In der Küche, hier drüben", murmele ich. Sie setzt sich auf einen der Stühle, während ich heißes Wasser über den Kaffeefilter gieße. Dann setze ich mich der Frau gegenüber.

„Du wohnst hier mit deiner kleinen Schwester, richtig?", will sie dann wissen.

„Ja."

„Was ist mit deinen Eltern? Wo sind sie und warum wohnt ihr nicht bei ihnen?"

Ich schlucke. „Meine Mutter ist vor drei Jahren abgehauen und hat uns bei unserem Vater gelassen. Als der eine neue Freundin gefunden hatte, hat er mich rausgeworfen und gesagt, ich solle Lana gleich mitnehmen."

„Und dann bist du gegangen?"

Ich nicke. „Ich hatte vorher schon einen Minijob und für ein paar Wochen waren wir in einer Jugendherberge. Dann habe ich mir noch mehr Jobs gesucht und die Wohnung."

„Warum hast du dir keine Hilfe geholt?", fragt sie behutsam.

Ich lache trocken auf. „Auf Erwachsene kann man sich nicht verlassen. Sie hätten mir Lana weggenommen und ich habe ihr versprochen, dass ich auf sie aufpasse. Sie werden sie mir doch auch wegnehmen, deswegen sind sie doch hier."

Die Frau schüttelt den Kopf. „Niemand will dir deine Schwester wegnehmen, Noel. Aber du bist selbst noch minderjährig und du solltest nicht für ein kleines Mädchen sorgen müssen. Wir wollen dir helfen und ich bin mir sicher, wir finden eine gemeinsame Lösung."

Sauer springe ich auf. „Ach, lassen sie doch das scheinheilige Getue! Warum sollte ich ihnen das glauben?", fahre ich sie an und will aus dem Raum stürmen.

Sie hält meinen Arm fest. „Ich möchte dir helfen. Aber das geht nur, wenn wir uns vernünftig unterhalten. Wenn du nicht bereit bist, mit uns zusammenzuarbeiten, dann wird Lana tatsächlich mit zu uns kommen müssen."

„Ich brauche keine Hilfe", widerspreche ich, „Wir kommen doch super so zu zweit klar. Ich kann für Lana sorgen."

„Niemand will das abstreiten, aber du gehst noch zu Schule Noel und du bist erst sechzehn, richtig? Wie viel arbeitest du in der Woche? Und setz dich doch bitte wieder hin."

Erschöpft lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen. Es hat doch alles keinen Sinn. Es wird mir auch nicht helfen, zu lügen, also beantworte ich ihre Fragen ehrlich.

Die Frau, Frau Müller, bleibt fast zwei Stunden und redet mit mir. Sie stellt lauter Bedingungen auf, die ich einhalten muss, wenn ich will, dass Lana bei mir bleiben darf.

„Also auf keinen Fall kannst du weiter fünf Abende in der Woche im Club arbeiten. Keine Arbeit an Schultagen und du bist spätestens um zehn Uhr zuhause", verlangt sie.

„Aber wovon soll ich dann die Miete bezahlen?", widerspreche ich sofort, „Irgendwer muss doch wohl arbeiten."

„Du weiß, dass dein Vater auch eine Sorgepflicht hat? Er muss immerhin Geld bezahlen, dass du nicht selbst arbeiten musst. Ich werde das mal prüfen, aber es geht nicht, dass du jeden Tag, sobald du aus der Schule kommst, nur noch am Arbeiten bist."

Ich stoße ein trockenes Schnauben aus. „Natürlich wird mein Supervater mit Freuden meine Miete bezahlen. Weil ich ihm ja so wichtig bin. Wenn ich in zwei Wochen nicht mit auf Klassenfahrt fahre, reicht das mit meinen Rücklagen vielleicht für den nächsten Monat."

Frau Müller steht auf und legt mir die Hand auf die Schulter. „Mach dir bitte erst einmal keine Sorgen um das Geld. Wir klären das und im Zweifel gibt es immer noch Zuschüsse. Du fährst auf Klassenfahrt."

„Was ist mit Lana? Sie kann ja wohl nicht alleine hierbleiben. Eigentlich wollte ich sowieso nicht...", murmele ich.

„Lana wird für die nächsten Wochen in einer unserer Einrichtungen bleiben müssen, bis wir alles geklärt haben."

„Nein", flüstere ich entsetzt, doch Frau Müller nickt nur resigniert. „Mehr Zugeständnisse, als, dass du in der Wohnung bleiben kannst, kann ich dir leider nicht machen. Es tut mir leid."

Nicht NormalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt