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Langsamen Schrittes nahm ich eine Stufe nach der anderen, kam endlich im zweiten Stock an. 

Von draußen konnte man schon die entspannte Musik hören und den Geruch von Zimt vernehmen, der jedes Jahr über dem Jugendtreff schwebte, sobald es auch nur den Anschein machte, langsam vom Herbst in den Winter überzugehen. Ich stemmte die schwere Stahltür auf und wurde sogleich von einer angenehmen Wärme umhüllt. Der Schal um meinen Hals fühlte sich auf einmal nach viel zu viel Stoff an.

"Hey, Malou!", rief mir Yannes zu, dabei zog er das Ende meines Namens in die Länge. 

Ich lächelte. Obwohl dieser Ort für mich oft nur Schmerz bedeutete, war ich froh jeden Donnerstag herzukommen und meine Freund*innen zu sehen.

,,Hey," begrüßte nun auch ich ihn mit einer kurzen Umarmung. 

Nachdem ich die restlichen acht Mitglieder der Jugend umarmt hatte, setzte ich mich endlich auf einen der Barhocker vor der Theke. Mein Schultag war anstrengend gewesen, weswegen ich mich nun in das Polster klammerte, als sei es meine einzige Rettung vor der Schwere des Alltags.

Heute hatten wir im Religionsunterricht über Homosexualität gesprochen. Es war mittlerweile kein Tabuthema mehr, wurde meist offen und tolerant behandelt.
Und doch füllte sich mein Herz immer wieder mit einer Schwere, die kaum zu ertragen war. Sobald irgendjemand über dieses Thema sprach, spannten sich alle meine Muskeln an und ich horchte auf - aus Angst, Zentrum des Gesprächs zu werden.

Und das obwohl ich mein Geheimnis - unser Geheimnis - wahrte wie einen versteckten Schatz.

Meine Lieblingsstimme befreite mich aus meinen Gedanken. ,,Hey," hauchte Adina mir ins Ohr, gefolgt von einer herzlichen, jedoch für alle um uns herum harmlos wirkenden, Umarmung. Dabei strich sie mir zärtlich über den Rücken. Ich liebte es, wenn sie das machte. Es ließ mich alles um mich herum vergessen und mich vollkommen auf die Geborgenheit, die Adina ausstrahlte, konzentrieren. Ich atmete ihren lieblichen Geruch ein, wie immer eine Mischung aus Lavendel und Kaffee.
Sie kam wohl gerade von der Arbeit, da ihre Haare noch in einem unordentlichen Dutt versteckt waren, den sie nur im Café trug.

,,Hi, wie geht's?", fragte ich mit einem Unterton, den nur sie verstand. In meiner Frage steckte viel mehr. Wie war dein Tag? Wie steht es um unser Geheimnis? Wie fühlst du dich? Werden wir uns später wieder gemeinsam wegschleichen?

Adina verstand natürlich. Sie schenkte mir ein sanftes Lächeln, erzählte den anderen etwas belangloses aus ihrem Alltag. Dabei blickte sie mich warm an, gab mir die Antwort auf meine eigentlichen Fragen.
Wir würden später wieder Zeit miteinander verbringen. Uns lieben. Und dabei Angst haben.

Ich seufzte. Es war nicht fair.

Nachdem wir uns alle auf die klapprigen Stühle, die in einem Halbkreis vor der Bühne standen, gesetzt hatten, ging es auch schon mit der Predigt los. Diesmal wurde eine Bibelstelle von unserer Jugendpastorin Neele vorgelesen. Wir sollten daraufhin unsere aufkommenden Empfindungen teilen.

,,Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen!"

Adina und ich tauschten einen Blick aus, verstanden, woran wir beide dachten. Zu gerne hätte ich jetzt ihre Hand genommen. Doch das ging nicht.

Weil Liebe nunmal nicht gleich Liebe war. Zumindest nicht hier.

Einem Ort, andem man die Liebe Gottes predigte, während man sie ihren Kindern verwehrte.
Ihren Kindern.
Gott als Mutter - allein dieser Gedanke schien hier abwegig, obwohl er mir Hoffnung gab. Ich fühlte mich wohl bei dem Gedanken, Gott würde mich umarmen und wiegen, wie es nur eine Mutter konnte. Gott hätte mich in ihrem Schoß getragen und geplant - genau so, wie ich war.

Ich wusste allerdings, dass es nicht darum ging, was ich fühlte. Es ging darum, die offizielle Meinung unserer Gemeinde, der Freikirchen, des Christentums zu vertreten. Diese Meinung sah nichts Kontroverses vor, das über Frauen, die predigen dürfen, hinausging.

~•~

Bibelstelle: 1. Korinther 16:14

Hör nicht auf zu liebenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt