Das nächste, das ich wahrnahm, war ein unangenehmes Pochen in meinem Schädel. Ich versuchte meine Augen geschlossen zu halten, doch das grelle Scheinen der Sonne machte es mir unmöglich. Stöhnend richtete ich mich langsam auf, bemerkte den weichen Untergrund, auf dem ich saß. Als ich es endlich geschafft hatte, meine Augen zu mehr als einem kleinen Spalt zu öffnen, wurde mir mein Standort bewusst. Ich war bei mir zu Hause. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie ich hierher gekommen war. Der gestrige Abend ging mir schemenhaft durch den Kopf. Adina und ich hatten zu viel getrunken. Adina. Mir schoss die Röte ins Gesicht, als ich an unseren Kuss dachte und daran, was danach auf dem Gang passiert war. So weit waren wir noch nie gegangen, so hemmungslos und gierig noch nie übereinander hergefallen.
Durch die fürchterlichen Kopfschmerzen konnte ich mir nicht einmal Gedanken darüber machen, ob ich gestern bereute. Mein Kopf war wie leer gefegt. Ich brauchte dringend eine Aspirin. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits zehn war. Sofort war ich hellwach. ,,Scheiße!", fluchte ich und sprang auf. Diese ruckartige Bewegung ließ mich kurz schwarz sehen. Ich musste zur Schule. Warum hatten meine Eltern mich nicht geweckt? Hatten sie etwas von gestern mitbekommen? Auf einmal war ich tierisch nervös. Was würde mich erwarten, wenn ich jetzt nach unten gehen würde? Am liebsten wäre ich zurück ins Bett gekrochen und nie wieder aufgestanden. Doch die schrecklichen Kopfschmerzen erinnerten mich an mein eigentliches Ziel. Aspirin.Also machte ich mich auf den Weg in die Küche. Dabei begegnete ich meinem Vater, der am Küchentisch saß und aus einer großen blauen Tasse seinen Kaffee schlürfte. Er arbeitete montags immer von zu Hause aus. Ich murmelte ein leises Morgen, was er mit einem Augenverdrehen quittierte.
,,Ich weiß, was du gestern getan hast, Malou." Die Strenge in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Ein Schauder breitete sich auf meinem gesamten Körper aus. Er wusste von Adina und mir. Mir wurde schummrig, ich war kurz davor umzukippen, krallte mich sicherheitshalber in den Thresen hinter mir. Mein Leben würde sich ändern, alles würde sich ändern. Meine Eltern würden mich vor die Tür setzen und nie wieder auch nur ein Wort mit mir reden. Tränen traten in meine Augen. Ich konnte nicht atmen. Was würde jetzt passieren? ,,Papa, ich-" Mein Vater unterbrach mich scharf: ,,Malou, ich will keine Ausreden hören! Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie du gestern hier 'reingetorkelt kamst. Gott sei Dank war wenigstens Adina bei dir und hat dafür gesorgt, dass du sicher nach Hause kommst." Mein Herz setzte einen Moment aus. Was? Das war, was er meinte? Ich atmete erleichtert aus. Unser Geheimnis war sicher. Vorerst. ,,Du kannst von Glück reden, dass deine Mutter gestern schon geschlafen hat. Ich werde ihr nicht erzählen, dass du betrunken warst und uns angelogen hast. Wenn du mir verrätst, wo ihr wirklich wart."
,,Wir-", ich dachte einen kurzen Moment darüber nach, ihn erneut anzulügen, doch unter seinem stechenden Blick war es mir unmöglich, ,,Wir waren in einer Bar, Papa. Dort fand ein Poetryslam statt und den wollten wir uns ansehen. Ich weiß, ich hätte euch nicht anlügen dürfen. Tut mir leid." Und es tat mir wirklich leid. Meine Eltern hatten mich besser erzogen, als dass ich sie dauernd anlog. Doch wie sollte ich ehrlich zu ihnen sein, wenn sie mir immer wieder das Gefühl gaben, ich könnte ihnen nicht vertrauen?
,,Ich hab dich für heute krank gemeldet, in deinem jetzigen Zustand kannst du nicht zur Schule und dein Bestes geben. Ruh dich heute aus, einen weiteren Freifahrtsschein wird es nicht geben." Damit war das Gespräch beendet und mein Vater ließ mich wieder allein. Seine Tasse hatte mittlerweile ihren Weg in die Spüle gefunden. Seufzend setzte ich mich auf einen der Küchenstühle. Ich atmete einmal tief durch. Erneut waren wir dem Ausbruch der Hölle entkommen. Erneut war es verdammt knapp gewesen.Nachdem ich endlich eine Aspririn intus und ebenfalls meinen Morgenkaffee getrunken hatte, begab ich mich wieder in mein Zimmer. Die Bibel, die auf meinem Tisch lag, fiel mir ins Auge, doch ich verwarf den Gedanken, sie aufzuschlagen, sofort wieder. Nach dem gestrigen Abend wollte ich erstmal keinen Bibelstellen über den Weg laufen, die mich und Adina verurteilten. Ich seufzte. Auf einmal kamen wieder Zweifel in mir auf. War Homosexualität doch eine Sünde? Würde ich in die Hölle kommen? Langsam schlenderte ich zu meinem Schreibtisch, nahm das alte Buch zur Hand, strich über das Cover. Die Bibel. Das Wort Gottes.
Ich wusste, dass man die vermeintlich homophoben Stellen auch anders lesen konnte. Ich wusste, dass es in ihnen eigentlich um Pädophilie und Vergewaltigung, nicht um gleichgeschlechtliche Liebe ging. Doch was, wenn ich mich irrte? Würde Gott mich dann verurteilen? Mich und Adina?
Trotz der Schmerztablette setzten erneut Kopfschmerzen ein, diesmal aufgrund meiner anstrengenden Gedanken. Ich fragte mich, ob dieses Hin und Her jemals aufhören würde. Würde ich für immer diese Zweifel in mir hegen, für immer nicht sicher sein, ob Gott mich wirklich annahm? Vehement schüttelte ich meinen Kopf. So konnte es nicht weitergehen. Ich musste meine Sorgen loswerden. Mich jemandem anvertrauen. Doch als ich an das Gespräch mit meinem Vater dachte, der mich allein mit seinem strengen Blick zum Schweigen brachte, wurde ich unsicher. Er würde mir niemals bis zum Ende zuhören, mich gar nicht erst erklären lassen, was ich für Adina empfand.
Ich beschloss, eine Kerze anzuzünden. Kerzen hatten eine besondere Bedeutung in unserer Gemeinde. Sie verkörperten das Licht Jesu, das in jedem von uns schien. Sie gaben Hoffnung, dass Gott bei uns war, und sei es nur inform dieser kleinen Flamme. Sie schenkten Wärme und Geborgenheit und Liebe. Ich lächelte etwas. Das Feuer begann nach oben zu steigen, wurde nach wenigen Sekunden wieder klein. Auf einmal kam mir jemand ganz besonderes in den Kopf, dem ich meine Sorgen anvertrauen konnte.
,,Herr," fing ich an, verstummte allerdings sofort wieder. Es fühlte sich nicht richtig an das Dogma meiner homophoben Gemeinde zu befolgen. Kam mir vor wie eine Lüge, Gott mit etwas anzusprechen, das ich nicht fühlte. ,,Mama," probierte ich es - mit Erfolg, ,,ich komme heute zu dir, weil ich verzweifelt bin. Ich weiß, dass du vollkommene Liebe bist und dennoch behandeln mich deine Kinder, deine Nachfolger*innen wie eine Aussätzige. Sie hassen mich oder werden mich hassen, wenn sie von Dina und mir erfahren. Warum? Warum lässt du das alles zu? Warum stehst du nicht hier bei mir und hältst dein Versprechen? Du hast versprochen, immer da zu sein. Doch jetzt gerade spüre ich dich nicht. Ich spüre nur den Hass deiner Kinder. Bitte, komm doch her. Komm an meine Seite und gib mir das Gefühl, von dir geliebt zu werden. Von dir angenommen zu werden. Segne mich und meine Liebe. Zeig mir und Dina, dass wir auch deine Kinder sind und, dass du unsere Liebe nicht verurteilst. Egal, was passiert." Ich fuhr mit meinem Finger über den goldenen Rand der Kerze. Flüsterte mit durch Tränen erstickter Stimme ein leises Amen,
ein so soll es sein.~•~
Sooo meine lieben Leser*innen, endlich das heutige Kapitel!
Sorry, mir fiel es heute irgendwie echt schwer zu schreiben, dafür ist es jetzt aber länger als sonst ;)Lasst gerne ein Vote da⭐
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Hör nicht auf zu lieben
RomanceUnd vielleicht wird unsere Liebe irgendwann nicht mehr verboten, irgendwann einfach nur Liebe und keine Sünde sein. ,,Ich wollte unbedingt das Glänzen in ihren wunderschönen, besonderen Augen sehen, wenn sie aus der tiefsten Seele ihres Herzens spra...