,,Was ist der Sinn des Lebens, Malou?"
Ich lachte leicht auf, weil die Frage so plötzlich kam. Mein Blick gleitete in den Sternenhimmel, der heute so schön aussah. So unbegreiflich unendlich. Was war der Sinn des Lebens? Wenn man meine Eltern fragte, dann auf jeden Fall Gott. Das Leben nach dem Tod, der Himmel. Wie immer man es auch nennen wollte. Fragte man verschiedenste Philosoph*innen war der Sinn des Lebens das Streben nach Glück, die Findung deines wahren Ichs. Die Antwort auf transzendente Fragen. Was passiert nach dem Tod? Warum sind wir auf der Welt? Was ist unsere Aufgabe als Menschen? Vielleicht würden wenige leise Zeitgeister auch antworten, der Sinn des Lebens sei die Vernunft. Die Tugend. Vielleicht auch die Gemeinschaft. Ging man nach Kant, war der Sinn des Lebens das eigene Verhalten zur Maxime der gesamten Gesellschaft zu machen. Doch was konnte mir ein sexistischer, rassistischer und antisemitischer alter Mann schon über den Sinn des Lebens verraten? Über meinen Sinn des Lebens? War es nicht so, interpretierte nicht jeder Mensch den Sinn des Lebens für sich selbst? Ich musste unweigerlich an Jesus denken. Meine Eltern lebten seine Lehren auf aggressive und verurteilende Weise, was mich verletzte. Was mein Liebesleben zerstörte. Doch Jesus, Jesus nahm Menschen an. Er gesellte sich zu den Armen, speiste mit Sünder*innen. Jesus legte sich mit jedem an, der Menschen ausstieß, er kämpfte gegen das ausbeuterische System. Gegen die Mehrheitsgesellschaft, in deren Mitte kein Platz für Andersdenkende war. Ich dachte an Jesus' Umgang mit Kindern, mit der sündigen Samariterin am Brunnen, mit Aussätzigen, die selbst am Sabbat von ihm geheilt werden wollten. Und auf einmal wusste ich, was mein Sinn des Lebens war.
,,Die Liebe," ich benetzte meine ausgetrockneten Lippen, räusperte mich etwas in der Stille der Nacht, ,,die Liebe ist der Sinn des Lebens."
Adina und ich rückten enger zusammen, es war kalt geworden auf dem Dach der Kirche. Bald würde die Jahreszeit, inder wir uns hier heraufschleichen konnten, vorbei sein. Adina lächelte, aber es erreichte nicht ihre Augen. ,,Ich glaube, du hast das gut zusammengefasst. Erinnerst du dich noch an die eine Bibelstelle? Mit der Liebe als Band, das über alles zieht?" Ich nickte, natürlich erinnerte ich mich.
Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.
,,Daran muss ich oft denken, wenn ich die Lehren in der Kirche höre. Dass die Liebe das Band ist, das alles überdeckt. Auch deren Worte."
Meine Lippen verließ ein Seufzen, hallte wieder im Nebel der Nacht. Alles überziehende Liebe, wie schön.
~•~
Bibelstelle: Kolosser 3:14
Das nächste Kapitel wird wieder länger, fand es passend, es an dieser Stelle zu beenden :)
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Hör nicht auf zu lieben
RomanceUnd vielleicht wird unsere Liebe irgendwann nicht mehr verboten, irgendwann einfach nur Liebe und keine Sünde sein. ,,Ich wollte unbedingt das Glänzen in ihren wunderschönen, besonderen Augen sehen, wenn sie aus der tiefsten Seele ihres Herzens spra...