,,Und bist du schon aufgeregt?", fragte ich Adina, die ihren Cocktail fest umklammerte. Ihre ganze Haltung war angespannt.
,,Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr." Gequält verließen diese Worte ihre Lippen, welche sie zu einer nervösen Grimasse zog. Ich war unglaublich stolz auf sie, gleich würde sie auf die Bühne gehen und einen ihrer Poetryslams vortragen. Ihre intimsten Gedanken offenbaren, vor all diesen Fremden. Es war wirklich bewundernswert. Ich würde mich das niemals trauen. Die einzigen Auftritte, die ich vor Publikum hatte, waren mit dem Tanzen oder die Krippenspiele in der Gemeinde.
Mein Blick glitt durch die gut besuchte Bar. Unsere Stadt war wie gemacht für Studierende, von denen es hier heute Abend nur so tummelte. Weitere Minuten vergingen, bis schließlich ein Mann auf die kleine Bühne neben uns trat. Die Band hatte aufgehört zu spielen. Der Mann war bestimmt schon Mitte dreißig, hatte einen karierten Hut schräg auf dem Kopf sitzen und ein paar weiße Zettel in der Hand. Souverän begann er: ,,Einen wunderschönen guten Abend an alle Gäste unserer kleinen bescheidenen Bar! Wir begrüßen euch auch dieses Jahr wieder zu unserem Poetryslam, bei dem mehrere Teilnehmer*innen ihre vorbereiteten Texte vortragen werden. Der Applaus danach entscheidet, wer gewinnt. Also dann, lasst uns beginnen! Nilan Wacarki, du bist der erste." Er klatschte in die Hände, hüpfte von der Bühne und reichte Nilan das Mikro, der bereits auf seinen Auftritt gewartet hatte.Der Applaus sprach Bände, Nilan war wirklich gut gewesen. Er hatte über die Überwindung seiner Drogensucht gesprochen und, wie er das Leben nun endlich wieder in klarer bunter Farbe betrachten konnte. Wirklich berührend.
Nachdem noch ein paar andere Leute, die ich nicht kannte, aufgetreten waren, bekam nun auch Adina endlich das Mikro zur Hand. Gebannt beobachtete ich, wie sie die zwei Stufen hochging und sich in die Mitte der Bühne stellte. Ihr Blick suchte meinen, fand ihn, sie lächelte, ich zeigte mit meinen Daumen nach oben. Du kannst das, Adina.Sie begann zu sprechen, ihre Augen zu funkeln und ich verlor mich im Klang ihrer Worte:
,,Die Liebe ist der Sinn des Lebens. Die Liebe ist der Weg zum Heil.
Die Liebe ist, was uns zu Menschen macht.Doch was, wenn die Liebe sich gar nicht wie die Liebe anfühlt?
Was, wenn sie drückt und ziept und schmerzt.
Was, wenn sie gar nicht gutmütig und unschuldig und freundlich ist?
Was, wenn die Liebe gar keine Liebe ist?Sie geht mir durch Mark und Bein, durch Muskel und Knochen. Die Liebe nimmt mich ein, wie sie es sollte, umgibt mich wie ein Kokon.
Wiegt mich und liebt mich.Doch was, wenn die Liebe sich gar nicht wie die Liebe anfühlt?
Was, wenn die Liebe gar nicht das Licht am Ende des Tunnels ist, wenn sie gar nicht umgibt, gar nicht berührt?
Wenn sie nur Trauer ist. Wenn sie nur Leiden schafft.Ja, was ist, wenn die Liebe lieblos ist?
Ist dann der Sinn des Lebens verloren? Kann dann nicht mehr glücklich sein, nicht mehr entspannen, nicht mehr zurücklehnen?
Was ist, wenn die Liebe verbietet, wenn sie herabsieht, wenn sie verurteilt? Was ist, wenn die Liebe kein Höheflug ist, kein Entkommen anbietet, niemandes Zuhause ist?Ja, was ist, wenn die Liebe sich nicht wie die Liebe anfühlt?
Der Sinn des Lebens ist die Liebe. Doch was ist, wenn dieser Sinn verloren geht?
Was, wenn die Liebe ihn versteckt, ihm nicht folgt?
Was, wenn die Liebe ihn zertrümmert?Die Liebe ist etwas schönes.
Sie sorgt sich und kümmert sich und stellt keine Fragen. Die Liebe würde sich niemals aufdrängen. Sie würde niemals zwingen, niemals böse sein. Die Liebe ist gut und ehrlich und genau richtig.
Jeden Augenblick, ein ganzes Leben lang.Doch was ist, wenn die Liebe sich nicht wie die Liebe anfühlt?
Was dann?
Sind wir dann nicht alle verloren?Weil ohne die Liebe nichts geht. Weil ohne sie der Sinn fehlt, der das Leben lebens- und liebenswert macht."
Ein tosender Applaus hallte durch den ganzen Raum, während ich nur an meinem Tisch stand und Adina fassungslos anstarrte. Sie hatte meine Antwort genutzt und über uns, unsere Liebe gesprochen. Wie sehr sie sie verletzte, wie unfair sie war, dass sie sie dennoch schätzte. Adina hatte mit ihrem Poetryslam nicht nur endlich ihre Gefühle und ihren Schmerz ausdrücken können, sie hatte mir ihre Liebe offenbart. Öffentlich. Und das gleiche wollte ich auch tun. Es war eine Kurzschlussreaktion und überhaupt nicht durchdacht, doch als Adina schließlich vor mir zum Stehen kam, packte ich ihr Gesicht und vereinte unsere Lippen miteinander. Die Menschenmenge, die zu johlen begann, und der Applaus, der sich intensivierte, waren mir egal. Wie so oft, wenn wir uns küssten, zählten nur noch wir. Die Welt blieb stehen und ich konnte nur daran denken, wie sehr ich die Frau vor mir liebte. Niemals würde ich sie gehen lassen.
~•~
Diesen und weitere Poetryslams findet ihr auch in meinem Buch ,,Poesie" :)
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Hör nicht auf zu lieben
RomanceUnd vielleicht wird unsere Liebe irgendwann nicht mehr verboten, irgendwann einfach nur Liebe und keine Sünde sein. ,,Ich wollte unbedingt das Glänzen in ihren wunderschönen, besonderen Augen sehen, wenn sie aus der tiefsten Seele ihres Herzens spra...