16 | chaos

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Dreißig Minuten lang fand ich mich in einer Grundsatzdiskussion über mein Verhalten bei den Lebensbeweisen wieder. Ausgerechnet Chaoskönigin Tokyo sah es als ihre Aufgabe an, mir unmissverständlich zu erklären, dass mein Verhalten einer Vollkatastrophe gleichkam. Als ob sie besser wäre... Verrückte Bitch!

Meine Rettung hieß Moskau, der sich als einziger auf die wichtigen Dinge konzentrierte: die Arbeit. Erst heute Morgen stieß er auf Erde. Moskau grub den richtigen Fluchttunnel in Tresorraum zwei, unseren einzigen Weg in die Freiheit. Den Erfolg feierten wir singend. Gemeinsam sangen wir ausgelassen das italienische Lied Bella Ciao, das symbolisch für den Widerstand stand. Es stärkte den Zusammenhalt unserer Truppe, der gefährlich wankte. Für ein paar Minuten schien die Welt in Ordnung zu sein.

Nairobi erzählte mir, was ich wegen meiner persönlichen Krise verpasste. Berlin litt an einer seltenen Krankheit, an der er in wenigen Monaten starb. Demnach gönnte ich ihm seine Affäre mit Ariadna, auf die ich ihn nicht mehr ansprach. Es verdeutlichte mir außerdem, dass Berlin nicht an Geld interessiert war. Für ihn zählte die Kunst, der perfekte Plan.
Hinzu kam ein Versuch der Polizei, Rio für sie zu gewinnen. Sie scheiterten, aber ein paar meiner Komplizen (wahrscheinlich Tokyo und Berlin) waren der Meinung, dass ich eine größere Schwachstelle sein könnte als Rio. Rio mochte "schwach" sein, aber ich hatte eine emotionale Bindung mit der Polizei.

Den restlichen Tag über bewachte ich Geiseln. Die ganze Zeit tuschelten Arturito und Pablo - ein Schüler - miteinander. Wie eine verräterische Ratte kroch Arturo auf dem Boden herum, nervte selbst die Geiseln und heckte etwas aus. Eindeutig. Ich teilte meinen Verdacht Helsinki und Olso weiter, aber die unterhielten sich angeregt auf serbisch miteinander. Zwischen den beiden Cousins fühlte ich mich wie das dritte Rad am Wagen. Als Arturito Helsinki darum bat, Monica zu sehen, kehrte endlich Ruhe ein und Oslo sah nach den Geiseln unten im Keller.

Ich dankte den Götter, dass Arturitos Gerede für eine kleine Weile ein Ende nahm. Wenn das so weiterging konnte mein angespanntes Ich keine Garantie übernehmen, ihm nicht doch eine Kugel zu verpassen. Meine Begegnung mit meiner Mutter wühlte meine Gefühle ganz schön auf.

Doch diese Stille sollte nur die Ruhe vor dem Sturm sein, der nur wenige Minuten später auf uns einstürmte. Wie eine Göttin - vielleicht eine dramatische Formulierung - stürmte Nairobi die Stufen der Treppe herab. Die Ärmel ihres roten Overalls baumelten an ihrer Hüfte und obenrum trug sie nur einen BH. Während sie rannte versuchte sie, sich die kugelsichere Weste hektisch anzuziehen. ,,Alarmstufe rot!", schrie sie unnötigerweise. Ihre laute Stimme hallte in der gesamten Eingangshalle. Die Geiseln tauschten ängstliche Blicke miteinander. Ich zögerte nicht lange und lief ihr hinterher.

Nachdem wir uns rüsteten und Munition in die Waffen luden, rannten wir hinunter in den Keller. Dort wollten 16 Geiseln fliehen, so verkündete Denver es. Die Schutzweste an meiner Brust ließ mich realisieren, wie ernst die Lage war.

Unten im Keller sah es nicht besser aus. Wir trafen auf die anderen, nur Oslo fehlte. Die Explosion einer Sprengstoffladung sprengte ein riesiges Loch in die Wand. Nebel und Staub lag in der Luft. Die Geiseln befanden sich schon draußen. Wir kamen zu spät.

,,In Deckung!"
Tokyos Schrei riss uns in die Realität zurück, denn im selben Moment feuerten die Polizisten eine Kugel nach der anderen ins Innere. Eins musste ich Tokyo lassen: unübersichtliche Situationen wie diese meisterte sie perfekt, weil sie schnell denken konnte und Risikos einging. Risikos, zu denen ich mich gerade nicht fähig fühlte.

Ich kauerte mich neben Nairobi auf den Boden und schoss nicht annähernd so viele Kugeln nach draußen wie die anderen. Meine allererste Schießerei verlief chaotisch. Ich vergaß schnell wo oben und unten war, hatte kein Gefühl wohin geschossen wurde und hörte aufgeregte Befehle, die die anderen sich zubrüllten. Keine Ahnung, wie meine Komplizen immer noch dir Übersicht behielten. Mein Körper fühlte sich wie gelähmt an. Nur am Rande bekam ich mit, dass sie Helsinki auf die Weste trafen, überall schlugen die Kugeln kleine Löcher auf den Boden und in die wenigen Möbel.
Trotz allem wollte Nairobi unbedingt nach Helsinki sehen. Meine Angst um Nairobi war weitaus größer als meine Angst um mich selbst. Ziellos schoss ich auf die Polizisten, weil ich ihr Deckung geben wollte. ,,Pass auf, Nairobi!", brüllte ich ihr immer wieder zu. Die Schüsse halten tausendfach in meinen Ojren wider, weil es so unfassbar laut war.

Erst als Tokyo: ,,gebt mir Deckung!", brüllte, wurde ich wachgerüttelt. Als sie nämlich aufstand und im Kugelhagel herumrannte merkte ich, dass ich keinen von ihnen heute verlieren wollte. Selbst die nervige Tokyo nicht, die uns gerade den Hintern rettete. Ein entschlossener Blickkontakt mit Nairobi reichte, da schossen wir von neuer Kraft gepackt nach draußen. Ich drückte so oft ab, bis keine Kugel mehr kam - ohne nachzudenken.

Tokyo rollte das Maschinengewehr vor und feuerte so oft nach draußen, bis die Polizei einen Rückzieher machte. ,,Verschließen!", befahl Berlin. Gemeinsam verschlossen wir die Wand mit einer großen Metallplatte. Schwer atmend fiel ich danach in Nairobis Arme und versuchte die vielen Schüsse zu vertreiben, die mir in den Ohren hallte. Wenigstens ging es allen gut.

Allen, bis auf Oslo. Ihn fand Helsinki mit einer blutende Wunde am Hinterkopf im Keller. Die Geiseln hatten ihn ausgeknockt.

Zum ersten Mal zweifelten wir daran, dass es für uns ein Leben als Millionäre im Paradies gab. Vielleicht schafften wir es nicht einmal lebend aus der Banknotendruckerei...

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ALICIA SIERRA

,,Alicia... Alicia..."
Permanent wiederholte jemand meinen Namen. Flatternd öffneten sich meine Lider, aber ich war außer Stande etwas zu sagen. Der Schmerz kehrte in geballter Ladung zurück. Gérman beugte sich über mich, seine Hand drückte meine. Immer wieder blendete mich das Licht der Handykameras umstehender Gaffer. Der Unfall sprach sich langsam herum, aber anstatt zu helfen hielten sie mir lieber ihre Smartphones ins Gesicht. Ich hasste Menschen.

Weit entfernt erklang eine nervtötende Sirene, die immer lauter wurde. Um mich herum nahm ich Stimmengewirr, Gedränge und pures Chaos wahr, das mir Kopfschmerzen bereitete. Ein Teil davon könnte auch vom Wein stammen, den ich vorhin konsumierte.

Gérman zog seine Jacke aus und legte sie als improvisiertes Kissen unter meinen Kopf. Eine warme Flüssigkeit lief an meiner Stirn hinunter. Blut. Meine Glieder schmerzten. ,,Gérman... Es... tut mir... Leid... Verzeih mir", flüsterte ich kaum hörbar. Begleitet wurden die Worte von einer einzigen Träne, die es mir nicht gelang, zurückzuhalten. Die Entschuldigung wäre für jeden anderen keine große Sache, aber aus meinem Munde schon. Mir fiel es schwer, einen Fehler einzusehen. Gérman links liegenzulassen war aber eine Sache, die ich nicht stehenlassen durfte. Er verdiente das nicht.

Die Müdigkeit überwältigte mich wieder. Gérmans Anblick verschwamm vor meinen Augen. Er rüttelte fest an mir. ,,Alicia, bleib wach. Ich will dich nicht auch verlieren..."

Nicht auch noch verlieren.
Ich wollte ihm so vieles sagen. Er musste sich keine Sorgen um mich machen. Jemand wie ich starb nicht an einem Unfall unter den Blicken der vielen Gaffern.

,,Señor Sierra, halten Sie es für möglich, dass der Unfall ihrer Frau mit der Geiselnahme zusammenhängt?!", brüllte jemand aus der Menge heraus. Super. Jetzt sprach sich schon namentlich herum, dass ich hier in meinem eigenen Blut lag.

,,Haltet endlich euren verdammten Mund und verschwindet!", brüllte Gérman die Menge endlich an. Er versuchte mich vor den Kameras zu schützen, aber die Menschen drängten sich kreisförmig näher.

Meine Gedanken drifteten ins Nirgendwo. Als wäre er meilenweit entfernt, sagte Gérman mehrere Male meinen Namen. Seine Stimme klang immer leiser.

Das Bewusstsein kehrte erst zurück, als ein paar hektische Sanitäter im Dauereinsatz sich über mich beugten. Sie hievten mich auf eine Trage, aber eine andere Reaktion als ein kurzes blinzeln erhielten sie nicht von mir. Die Situation kam mir so surreal vor, dass ich mir dem ganzen Drumherum nicht bewusst war. Der Schmerz verebbte langsam, je mehr ich mich der traumlosen Dunkelheit hingab.

Criminal Love [1] ˡᵃ ᶜᵃˢᵃ ᵈᵉ ᵖᵃᵖᵉˡ ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt