Ich verstand meine Welt nicht mehr. Ich wollte nicht sagen, dass es mir nicht gefiel, aber ich hatte zuvor noch nie einen Gedanken daran verschwendet. Nicht wirklich jedenfalls. Er löste sich von mir und ich sah, wie sich seine Eltern und Collin von der Tribüne genau auf uns zu bewegten. Hatten sie uns gesehen. Ich entfernte mich noch ein Stückchen von Louis, aber nicht zu weit, sonst hätte er vielleicht verletzt sein können. Louis suchte meinen Blick, aber als ich dann zu ihm sah, wandte er sich ab. Super gemacht Lyla, jetzt ist er sauer. Ich wusste nicht genau, warum er denn jetzt sauer auf mich war - wenn er das überhaupt war -, aber ich gab mir automatisch die Schuld.
"Louis." Ich streckte die Hand nach ihm aus, aber er reagierte nicht und deswegen fiel sie lustlos wieder herunter. Seine Familie umarmte ihn nacheinander und Colin klopfte ihm erschreckend fest auf die Schulter. Ich hatte nicht geahnt, dass dieser eher unsportlich anmutende Mann so viel Kraft in den Armen hatte. Aber keiner von ihnen sah mich schräg an, noch nicht mal Mary, von der ich eigentlich gedacht hätte, dass sie mich jetzt sofort auf die Seite nehmen würde und mich ausfragen würde. Obwohl nein, das hätte nur meine Mutter getan. Warum assozierte ich das Verhalten von ihr auf Mary?
Als Louis ausgiebig beglückwünscht wurde und ihm auch noch ein paar andere Teilnehmer einen festen Händedruck gegeben hatten, lud Colin uns zur Feier des Tages auf einen Drink ein. Auf dem Weg in die Bar, die sich ganz in der Nähe befinden sollte, lächelte mir Louis kurz zu, aber sonst sagten wir fast gar nichts. Ich war heilfroh, als Mary mich in ein Gespräch einwickelte.
Die sogenannte Bar erinnerte mich mehr an ein Irish Pub, vielleicht war es das auch, ich hatte nicht auf das Schild geachtet. Drinnen war es dunkel und laut, Leute saßen an vielen kleinen Tischen oder an der Theke, die Rauchschwaden waren so dicht, dass man aufpassen musste, nicht plötzlich gegen einen Kellner zu laufen. Offensichtlich hatte sich das Rauchverbot noch nicht bis zu dieser Gaststätte durchgesetzt. Mit einem breiten Grinsen führte Colin uns an einen noch freien Tisch im Zentrum des Gelächters. Ich war mir ziemlich sicher, dass Mary und Heath nur keinen Streit wegen des ausgesuchten Ortes mit Colin anfingen, weil sie Louis nicht den Tag versauen wollten. Aber sie sahen nicht wirklich glücklich aus. Mir war es recht egal, wo wir uns gerade befanden, ich musste nachdenken. Und das tat ich dann auch, den farbenfrohen Cocktail vor mir ließ ich unbeachtet stehen. Ich wusste auch gar nicht, wie er den Weg zu mir gefunden hatte, denn bestellt hatte ich ihn mir nicht.
„Ich bin mal kurz vor der Tür", sagte Louis in die Runde, aber außer mir hatte ihn glaube ich keiner verstanden.
"Kommst du mit?" Ich hatte natürlich gehofft, dass er das sagte, ich nickte und dann bahnten wir uns einen Weg durch enge Tischreihen, stickige Luft und Menschen, die uns gar nicht beachteten. Louis öffnete eine Tür, auf der "nach draußen" strand, ich fragte mich, ob er schon mal hier gewesen war, denn ich hätte diesen Ausgang beim besten Willen nicht gefunden. Das Innere der Bar war das reinste Labyrinth. Das "Draußen" stellte sich als ein vollgestellter Hinterhof heraus, es wurden dort Getränkekisten, Kartons und Tüten gelagert. Den Nutzen, der dieser dreckige Abstellplatz für die Gäste haben sollte, verstand ich nicht so recht. Louis lehnte sich an die nackte, graue Wand und sah mich an. Mein Verstand blieb aus, was wollte ich nochmal sagen?
"Du hast gar nichts getrunken", sagte Louis und brach somit das gefühlt stundenlange Schweigen.
"Hatte keinen Durst." Und das stimmte sogar.
"Ist alles okay? Du sahst vorhin irgendwie... genervt aus."
"Ich glaube, ich bereue es ein bisschen, was ich am Strand getan habe."
Was? Wie meinte er denn das jetzt?
"Wieso?" Ich sah ihn fragend an.
"Vielleicht hätten wir uns erstmal besser kennenlernen sollen, das ging alles so schnell."
Okay, also das hatte ich wirklich noch von keinem Jungen gehört, weder im realen Leben, in einem Buch oder einem Film. Das war ja ganz nett von ihm, aber ich verstand es trotzdem nicht wirklich.
"Aber... das war doch nur ein Kuss." Mir kam langsam der Verdacht, dass ich da etwas falsch verstanden hatte.
Jetzt war er es, der mich ansah, als wäre er im falschen Film. Als von mir nichts mehr kam, reagierte er schnell, sah in eine andere Richtung und nickte.
"Ja, du hast recht." Es war nicht normal, wie er das sagte, seine Stimme hörte sich anders und seltsam erstickt an, als wäre er eigentlich anderer Meinung. Ich dachte, jetzt wäre die Sache geklärt, aber dann rollte er das ganze noch einmal auf.
"Aber ich frage mich, warum du es dann erwidert hast, warum hast du es noch schlimmer gemacht? Du hättest mich wegstoßen können oder so etwas." Jetzt hatte er mich, er war gereizt und außerdem wusste ich auf die Frage wirklich keine Antwort. Jetzt im Nachhinein hätte ich das mal lieber sein gelassen, das war wirklich nicht sehr clever gewesen. Ich zögerte, ich konnte mich an keine Situation zuvor erinnern, wo ich mir einmal so ratlos vorkam.
"Ich weiß es nicht, das war ein Reflex, glaube ich." Ein Reflex, sehr gute Erklärung, wirklich. Eine bessere Ausrede hatte ich nicht an den Tag bringen können.
Louis erwiderte nichts darauf, aber er verschränkte die Arme und spannte die Kiefer an. Ich holte tief Luft, für die Worte, die viele, gute und schlechte Bedeutungen haben konnten.
"Louis, ich dachte, wir sind Freunde."
Er zwang sich ein Lächeln auf. "Ja, sind wir auch." Dann stieß er sich von der Wand ab und verschwand durch die Metalltür. Jetzt war er weg, ich stand dort alleine, mit einem mordsschlechten Gewissen und hielt mir die Hände vors Gesicht. Irgendwann, als ich mich genug innerlich gesteinigt hatte, ging ich auch wieder hinein. Aber auch nur, weil ich Angst hatte, dass die anderen ohne mich wieder nachhause fahren würden. Denn eigentlich hätte ich in diesem verdreckten, stinkenden Hinterhof noch länger stehen bleiben können. Dort war ich wenigstens alleine.
"Alles okay, bei euch beiden?", fragte Mary mich, als wir im Hafen wieder auf die Fähre warteten.
Ich nickte, vielleicht etwas zu eifrig. Sie nickte verstehend, aber ich wusste, dass sie das nicht tat. Weiter ging ich nicht darauf ein, und ich wollte es auch nicht. Wir wurden hereingelassen und dieses Mal brachte Louis sein Surfboard selber in den Lagerraum. Er wollte mir aus dem Weg gehen, das war nur offensichtlich. Colin verabschiedete sich schnell von uns und versprach mir, dass wir uns wiedersehen würden. Ob ich das gut oder schlecht fand, wusste ich selber nicht so recht. Ich fand zusammen mit Mary und Heath eine eher ruhigere Ecke des Schiffes, wo Sessel und kleine Tischchen standen. Wir hielten auch einen Platz für Louis frei, aber es dauerte lange, bis er kam. Und als er dann gegenüber von mir saß, sah er mich nur dann an, als mein Blick auf dem Meer hing. Sonst schien er nachdenklich und ernst. Wenn so unsere gerade mal wenige Wochen alte schöne Zeit enden sollte und ich daran schuld war, würde ich mir wohl nicht mehr verzeihen können.
Die Rückfahrt mit dem Auto zog an mir vorbei, wie ein Lied, das man nebenbei hörte, aber eigentlich gar nicht beachtete. Ich wurde vor Grandmas Haustüre herausgelassen und als ich ausstieg, warf ich Louis noch einen Blick zu, aber anstatt etwas zu sagen, nickte er nur. Okay, ich hätte auch mal etwas sagen können, aber es war zu spät, meine Hand hatte schon die Autotür zugeworfen.
Und so endete der bis dahin ereignisreichste und am Ende deprimierendste Tag, den ich bis jetzt in diesen Ferien gehabt hatte. Louis war sauer auf mich und ich konnte nichts dagegen tun. Wenn es stimmte, und er doch etwas mehr als Freundschaft für mich empfand, musste ich ihm entweder auch aus dem Weg gehen oder mich schleunigst auch in ihn verlieben. Konnte ich da nicht so einen Schalter umlegen? Oder die Zeit zurückdrehen und bei diesem verdammten Kuss nicht meine Hände um ihn schlingen? Und ich dachte, es würde ein einfacher, sorgloser Urlaub werden, aber die Probleme schienen mich von Zuhause bis an diese abgelegene Stelle mitten im Ozean zu verfolgen.
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Every Summer has a Story (Louis Tomlinson)
Ficción GeneralHawaii - 137 Inseln, sieben davon bewohnt. Rund 3700 Kilometer vom Festland entfernt, macht Lyla Urlaub bei ihrer Grandma. Sie lernt Surfen, übernachtet in Zelten und genießt endlich mal das Leben. Auch Louis, der irgendwie immer dabei ist, schlie...