Reise in die Vergangenheit - Teil 1

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Es fühlte sich an, als ob ich an diesen Sitz festgeklebt worden wäre. Als ob ein schwerer Stein auf meiner Brust liegen würde. Ich schaffte es einfach nicht aus dem Auto auszusteigen. Seit fast dreißig Minuten saß ich hier drinnen und beobachtete die Trauergemeinde. Passend zu diesem Tag regnete es wie aus Eimern. Vielleicht würde das meine Tränen verstecken. Die letzten Tage habe ich nur in meiner Wohnung verbracht. Habe mit ihrem Shirt in meinen Armen geschlafen, was sie damals bei mir vergessen hatte. Die erste Zeit roch es noch nach ihrem blumigen Parfüm. Doch nun stank es nach mir. Nach Schweiß und Dreck der letzten Tage. Ich war einfach zu nichts in der Lage. Obwohl es da doch den Alkohol gab. Jede Menge Alkohol. Viel zu viel, wie ich schmerzlich feststellen musste. Ich war so besoffen und nur noch ein Häufchen Elend. Wie konnte es nur soweit kommen? Warum musste sie sterben? Warum ausgerechnet sie? Diese Gedanken taten so weh. Es brannte in meiner Kehle und meine Augen schwollen wieder zu. Nicht schon wieder. Meine Hände begannen zu zittern und reflexartig griff ich nach dem Flachmann in meinem Jackett. Aber ich wollte nüchtern bleiben. Wenigstens heute. Wenigstens bei der Trauerfeier. Das war ich Jennifer einfach schuldig. Also schob ich die Flasche wieder in mein Jackett. Vielleicht würde ich sie nachher doch noch mal brauchen.

Ich nahm allen Mut zusammen und stieg aus. Natürlich hatte ich keinen Schirm dabei. Ich war froh, dass ich in meiner Trauer einen sauberen und gebügelten Anzug gefunden hatte. Schnell lief ich in das Haus. Das Gelände war wirklich riesig. Schon öfter fragte ich mich, wozu die Hansons ein so großen Anbau brauchten. Ich drückte mich an einem älteren Pärchen und einer noch älteren Dame vorbei, die mich aber nicht wirklich wahrnahmen. Sie sahen alle betrübt aus. Jennifer hatte mich noch nicht allen Familienmitgliedern vorgestellt. Dafür waren wir noch nicht lange genug zusammen. Gerade mal sieben Monate, zehn Tage und drei Stunden. Aber ihre Eltern kannte ich schon gut und genau deswegen war ich auch hier. Ich hatte es schon nicht zur Beerdigung geschafft. Es ging einfach nicht. Der Schnaps ließ mich einfach nicht gehen. Dafür schämte ich mich so sehr. Doch ich hätte diesen Anblick auch nicht ertragen, wie sie beerdigt werden würde. Schon allein die Vorstellung ließ mich eine Panikattacke bekommen. Wie soll man es ertragen können, den Menschen, den man liebt, in einem Sarg zu sehen?

Drinnen verschaffte ich mir einen Überblick. Im Erdgeschoss war das Buffet im Wohnzimmer aufgebaut, wo auch Iris beschäftigt war. Einige Gäste waren dort und in der Küche. Im oberen Stockwerk hörte ich Schritte und Stimmengewirr. Ich beschloss, Iris zu helfen, bevor ich mich unter die anderen mischen wollte. Seit dem Unfall hatte ich Jennifers Eltern nicht mehr gesehen. Es würde sowieso schon unangenehm genug werden.

„Hi, Iris", stammelte ich verlegen. Sie blickte auf und sah mich erleichtert an.

„Schön, dass du da bist." Wir umarmten uns lange. Ich hörte sie an meiner Schulter schluchzen. Vielleicht hätte ich doch nicht herkommen sollen. „Wie geht es dir?", fragte sie liebevoll. Das war zu viel für mich. Ich weinte Rotz und Wasser. Iris war so fürsorglich und reichte mir ein Taschentuch. Es tat alles so sehr weh. Meine Augen, mein Kopf, mein Bauch und mein Herz spürte ich schon nicht mehr. Es war abgestorben.

„Es... es... tut mir so leid, Iris. Wirklich. Ich wollte mich melden, aber...", begann ich zu schluchzen.

„Schon gut, Phil. Ich weiß doch, wie wichtig sie dir war. Sie hatte dich wirklich sehr geliebt. Du musst dich nicht entschuldigen. Es war doch nicht deine Schuld."

„Doch. Ich war nicht bei ihr. Wäre ich doch nur mit ihr auf dieses beschissene Fest gegangen. Dann hätte ich sie nach Hause bringen können und sie hätte nicht allein auf der Straße laufen müssen."

„Hör bitte auf. Du warst zu dem Zeitpunkt nicht in Duskwood. Du kannst nichts dafür, für das, was passiert ist. Bitte lass gut sein. Michael und ich habe schon genug gegrübelt und gelitten. Am schlimmsten war, dass ausgerechnet sein bester Freund Alan ihn verhört hatte. Es war für Michael eine Tortur." In diesem Moment öffnete sich hinter mir dir Tür. Ich drehte mich um und sah Alan und seine Frau den Flur entlanglaufen. Freundlich nickte ich ihnen zu. Als sie zu Iris und mir liefen, trat ich einen Schritt zur Seite. Ich wollte mir das Gelaber nicht anhören. Dafür hatte ich keine Kraft. Die Polizei war bisher nicht sonderlich hilfreich bei der Suche des Mörders.

Im oberen Stockwerk fand ich Michael, der gerade in ein Gespräch vertieft war. Ziellos schaute ich mich um und beschloss, in Jennifers Zimmer zu gehen. Es sah noch genauso aus, wie das letzte Mal, als ich hier war und ihr lieblicher Duft lag noch in der Luft. Sie legte immer viel Wert auf Ordnung und war dadurch eher das Gegenteil von mir. Auf dem Bett lagen ihre zwei Kuscheltiere. Eine Katze und ein Hund. Sie erzählte mir immer, dass sie mit mir zusammen genau diese Haustiere haben wollte. Diese sollten dann Luke und Leia heißen, so wie in Star Wars. Anfangs verstand ich den Witz nicht, bis sie mich zwang, alle Filme mit ihr zu schauen. Schon wieder schossen mir die Tränen ein. Ich setzte mich auf ihr Bett. Tatsächlich musste ich etwas schmunzeln, wie oft wir uns hier amüsiert hatten, ohne dass ihre Eltern was merkten. Aber was hätten die beiden auch sagen sollen? Jennifer war immerhin schon 21 Jahre alt. Dass sie noch nicht ausgezogen war, lag am guten Verhältnis zu ihren Eltern.

Die letzten Monate mit ihr, waren die schönste Zeit, die ich je erlebt hatte. Und nun war da nichts mehr. Nur ein leeres Bett. Niemand konnte sie mir zurückbringen und ich war einfach nur wütend. Wütend auf mich, dass ich genau an diesem tragischen Abend bei einem Kumpel im Nachbarort war und wütend auf die Schweine, die dafür verantwortlich waren. Meine Faust ballte sich und ich wollte zuschlagen. Aber ich fand keinen Fokus. Wenn ich diese Person je finden würde, die für den Tod meiner Jennifer verantwortlich war, würde sie leiden müssen. Die Tür öffnete sich quietschend.

„Hey Phil", sagte Michael traurig.

„Hi Michael. Entschuldige bitte, dass ich..."

„Schon gut, Junge. Ich verstehe das. Habe eben mit Iris gesprochen. Sie meinte, dass du da bist. Wie geht es dir?"

„Mir?", fragend sah ich ihn an. Schon wieder erkundigten sich die Hansons eher nach meinem Befinden, als über ihres zu klagen.

„Du siehst wirklich nicht gut aus."

„Um ehrlich zu sein, geht es mir scheiße. Ich bin seit Tagen nicht mehr vor die Tür gegangen. Das fand mein Chef überhaupt nicht toll und hat mich gefeuert. Nun habe ich nicht mal mehr einen Job und weiß nicht, wie es weiter gehen soll."

„Hör mal, ich weiß, dass du dir die Schuld an allem gibst, aber du hast sie ja nicht totgefahren. Vielleicht kannst du morgen mal in der Aurora vorbeikommen? Ich brauche etwas Hilfe bei der Wiedereröffnung", erklärte Michael und legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter.

„Ich weiß nicht. Ich habe gar keine Ahnung von dem ganzen Zeug."

„Keine Sorge. Ich zeige dir alles. Und es ist alle Male besser, als nur zu Hause Trübsal zu blasen."

„Ich schaue es mir gern mal an. Vielen Dank für diese Chance."

Duskwood - Hinter der MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt