Klassentreffen
Entnervt drehte Fiona den Korken aus der grünen Glasflasche heraus. Es ploppte einmal. Kalter, weißer Schaum lief den Flaschenhals und ihre Hände herunter.
„Fuck!" stieß sie aus und schnellte mit der Flasche rüber zum Waschbecken.
Ihr rosafarbenes Schlafshirt hatte sie grade erst frisch aus der Wäsche geholt und nun war es an Brust und am Bauch durchtränkt mit Weißwein. Fiona seufzte.
Als wäre der Tag nicht schon beschissen genug gewesen. Am Morgen bekam sie die Nachricht, dass sie den Auftrag, an dem sie zwei Wochen lang Tag und Nacht gearbeitet hatte, noch einmal komplett überarbeiten sollte. Der Auftraggeber hatte sich in letzter Minute doch noch für ein anderes Konzept entschieden und so war die ganze Arbeit, die Fiona in die Skizzen gesteckt hatte, umsonst.
Wenigstens würde ihre Arbeit trotzdem entlohnt werden. Es war ja schließlich die Schuld des Auftraggebers und nicht ihre. Aus diesem Grund würde sie ihm die Arbeitszeit auf jeden Fall in Rechnung stellen.Um ihren freien Tag trotzdem noch schön gestalten zu können, hatte sie sich vor genommen, sich Abends ihr Lieblingsessen zu machen: Sushi.
Natürlich gab es in Berlin genug Anlaufstellen, sich Sushi liefern zu lassen, aber Fiona wollte sich die Zeit nehmen, es selbst zu machen. Da wusste sie es auch noch nicht besser.Es lief alles schief, was nur schief laufen konnte. Die erste Fuhre Reis brannte ihr im Topf an, die Noriblätter ließen sich nicht vernünftig rollen und die Füllung fiel immer wieder auseinander. Irgendwann gab sie es auf. Sie schmiss die Bambusmatte in die Ecke, stand auf, ging zum Kühlschrank und nahm sich die letzte Flasche Weißwein aus der Kühlschranktür. Sie wollte sich diesen Tag einfach nur noch wegtrinken und jetzt auch noch das.
„Was ist denn hier passiert?" fragte Lara, ihre WG-Mitbewohnerin, entgeistert, als sie in die Küche trat und das Chaos erblickte, dass Fiona auf dem Tisch hinterlassen hatte.
„Frag lieber nicht." murmelte Fiona, die sich grade über dem Waschbecken etwas von dem Weißwein in ein Glas schüttete.
„Schlechten Tag gehabt, hm?" sprach Lara ihre Vermutung laut aus und legte ihren Rucksack auf einem der vier Holzstühle am Tisch ab.
Fiona reagierte nicht. Stattdessen nahm sie einen großen Schluck aus ihrem Weinglas und atmete tief aus.
„Du bist ja schon in Schlafkleidung. Ich dachte, wir gehen heute feiern?" Lara klang enttäuscht und Fiona blickte sie mit zusammen gezogenen Augenbrauen an.
„Feiern? Wann haben wir das denn besprochen?"
„Naja, wir haben es nicht direkt besprochen. Ich habe das hier letztens im Papiermüll gefunden." Sie kramte einen babyblauen Brief aus ihrer rechten Hosentasche und wedelte damit in der Luft.
Fiona verdrehte die Augen. Sie erkannte den Brief sofort. Es war eine Einladung zum Klassentreffen, den sie vor ein paar Wochen im Briefkasten fand. „Ich gehe da nicht hin." antwortete sie stur.
„Wieso denn nicht? Willst du gar nicht wissen, was aus deinen Klassenkameraden geworden ist?"
„Pff, es hat mich damals schon nicht interessiert, was diese geistig unterbelichteten Idioten getrieben haben. Ich wette mit dir, die Hälfte von denen ist heute drogenabhängig, obdachlos oder im Knast. Vielleicht auch alles drei."
„Gibt es denn niemanden, den du gerne wieder sehen würdest?" fragte Lara überrascht.
Fiona schüttelte den Kopf. „Ich weiß, es ist für dich schwer vorzustellen, wie meine Schulzeit so war. Du bist auf dem Land aufgewachsen. Ihr seid wahrscheinlich nach der Schule auf Pferden nach Hause geritten und eure Eltern haben Nachmittags zu Kaffee und Kuchen geladen. Ich konnte froh sein, wenn ich während des Unterrichts nicht abgestochen wurde und auf dem Nachhauseweg nicht in eine benutzte Heroinspritze irgendeines Junkies getreten bin."
Lara schüttelte schmunzelnd den Kopf. Sie war erst vor ein paar Jahren aus einem kleinen Kuhkaff in Brandenburg nach Berlin gezogen. Hier studierte sie seitdem Psychologie und arbeitete nebenbei als Kellnerin, um sich die Hälfte der Miete und etwas zu Essen leisten zu können.
„Du redest so, als wärst du im Ghetto aufgewachsen."
„Bin ich nicht. Gott sei Dank." lachte Fiona. „Aber die Schule auf die ich geschickt wurde, war ein einziger Chaotenverein. Abgestochen zu werden lag dort wirklich im Bereich des Möglichen. Du kannst dir nicht vorstellen, was dort für Idioten unterwegs waren. Die meisten von denen konnten sich nicht mal vernünftig artikulieren."
„Also ich fände es interessant zu sehen, was aus denen geworden ist." murmelte Lara und schaute Fiona mit verschmitzten Grinsen an. „Ach, komm schon! Saufen für lau! Seit wann sagst du zu sowas Nein? Es gibt nichts, für dass du dich schämen musst. Aus dir ist wenigstens etwas geworden. Ist bestimmt ein guter Push für dein Ego."
„Ich brauche keinen Ego Push. Ich wusste damals schon, dass aus mir mehr wird, als aus denen." Fiona stellte ihr leeres Glas auf der Küchenzeile ab. „Ich weiß nichtmal, ob ich dich dort mit hin nehmen kann."
„Hier steht Plus 1 auf der Einladung." grinste Lara.
Fiona seufzte. Langsam wurde ihr klar, dass sie sich da nicht so leicht heraus reden konnte, wie sie erhoffte. Sie sah an sich herunter. Der große Weinfleck, der sich quer über ihrem T-Shirt verteilte, trocknete langsam an und die graue Jogginghose verzeichnete den ein oder anderen Wasabi Fleck, der bei ihrem kläglichen Sushi-Selbstmach-Versuch, darauf gelandet sein musste. Irgendwie erbärmlich.
„Wir sind noch jung. Wir sollten nicht an einem Samstag Abend zuhause auf der Couch vergammeln und Stranger Things gucken." beschwerte sich Lara.
„Das war aber mein Plan." erklärte Fiona selbstbewusst.
„Ich weiß. Genau das ist der Grund, weshalb du immer noch Single bist!" lachte ihre Mitbewohnerin und Fiona sah diese entsetzt an.
„Das ist nicht wahr. Ich bin Single, weil ich keine Zeit und keine Lust für eine Beziehung habe."
„Heute Abend hast du Zeit."
Fiona lachte. „Glaubst du wirklich, ich werde auf diesem dämlichen Klassentreffen die Liebe meines Lebens finden? Ich kenne die Idioten doch alle und davon ist nun wirklich keiner mein Traummann, glaub mir."
„Naja, die dürfen aber auch alle jemanden mitbringen. Vielleicht bringt jemand seinen heißen, breit gebauten, entfernten Cousin mit und BOOM! Verliebt."
„Wir sind nicht in einem 2000er Coming of Age Movie." lachte Fiona.
„Versuchen kann man es trotzdem. Also komm schon. Wenn's kacke ist, gehen wir wieder. Versprochen."
Fiona sah in das hoffnungsvolle Gesicht ihrer Mitbewohnerin. Sie fürchtete schon, dass der Abend kein gutes Ende nehmen würde, aber was hatte sie schon zu verlieren? Der Tag war für sie sowieso schon gelaufen.
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Überwiegend Macho (Felix Lobrecht FF)
FanfictionFiona ist 32 Jahre alt, gelernte Modedesignerin und aufgewachsen zwischen Junkies und Plattenbausiedlungen. Sie selbst kommt aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Anders, als ihre ehemaligen Klassenkameraden, von denen sie dachte, sie nie wieder sehen...