Kapitel 36 - "Friends, are we even that?"

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Ich reiße mir reflexartig die Kopfhörer aus den Ohren, als Rooster meine Zimmertüre aufreißt. Weil ich den Tag nicht komplett verstreichen lassen wollte, habe ich mich schon vor Abschluss der Mission an meinen Bericht gesetzt.

"Flame?", fragt er.

Es ist merkwürdig, dass er mich bei meinem Rufnamen nennt. Seit heute scheint alles anders zu sein.

Es ist zwar schon spät abends, aber die angestaute Luft zwischen uns hat sich immer noch nicht gelöst.

Ich drehe meinen Kopf zur Tür und sehe, wie er am Türrahmen lehnt. Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch und er fährt fort: "Phoenix wurde zu uns in den medizinischen Block verlegt. Wir können sie sehen, wenn wir wollen."

Das lasse ich mir nicht zwei mal sagen, ich springe auf und lasse den Rest auf meinem Schreibtisch stehen. Das ist bei Weitem die einzige gute Nachricht am heutigen Tag.

Als ich an Rooster vorbeigehe, nehme ich sein Hand: "Kommst du mit?"

Das Lächeln, das er mir schenkt, ist mir goldwert. Wie ein Friedensangebot.

"Natürlich", sagt er und drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. Gemeinsam verlassen wir unseren Wohnblock und warten, bis uns durch die Gegensprechanlage Zutritt gewährt wird.

Ich sehe die Ärztin, die mich damals behandelt hat, denn sie weißt uns ein paar Stühlen zu.

Anscheinend werden Bob und Phoenix gerade noch einmal durchgecheckt. Ich starre auf den weißen Flur vor uns. Hinter irgendeiner Tür sind sie also. Rechts von uns herrscht unverweigerliche Hektik, die Sekretärinnen am Schalter scheinen hin und her telefonieren zu müssen.

Das alles erinnert mich an meinen Vater.

Es war fast nahezu die gleiche Situation. Aber nicht nur einmal. Tag für Tag. Woche für Woche. Monate für Monate.

Ich musste mit 11 Weihnachten im Krankenhaus verbringen. Silvester auch.

Und immer habe ich die Krankenschwestern beobachtet, die einfach ihren Job erledigt haben. Ich habe mich immer gefragt, wie das möglich ist, einen klaren Kopf zu bewahren. Wenn um dich rum Menschen sind, die krank sind - oder sogar in Lebensgefahr.

Und noch schlimmer, wie ist es das Leiden der Angehörigen zu sehen? Und nichts tun zu können?

Mein Herz beginnt wieder zu rasen und ich schnüre mir fast selbst die Luft ab, weil Panik in mir hochsteigt.

Ich beginne heftig mit meinen Fingern zu spielen. Sogar die guten Erinnerungen an damals - zum Beispiel, dass mein Dad mir im Krankenhaus immer sein Dessert nach dem Koma überlassen hat - kommen nicht gegen die anderen Gefühle an.

Dann passiert das Schlimmste.

Als ich zu Bradley hinübersehe, der aufgestanden ist, um sich etwas zu Trinken zu holen, bricht alles über mich hinein.

Ich sehe nun nicht mehr Dad mit den Schläuchen im Mund, sondern Rooster.

Rooster, wie er mit geschlossenen Augen daliegt. Und auf einmal bin ich meine Mutter, mit den Kopf in seinen Haaren, die schrecklich weint.

Ich atme schneller. Lauter. Unkontrollierter.

Ich sehe von Bradley weg, der nun ein Gespräch mit dem Arzt im Flur führt. Nichts hilft und ich befürchte gleich still loszuweinen, als sich eine Hand auf meine legt und bewirkt, dass ich aufhöre hektisch an meiner Nagelhaut zu zupfen.

"Alles okay? Du bist ganz schön blass", höre ich jemanden sagen.

Es ist eine vertraute Stimme und erst als ich die Tränen in meinen Augen wegblinzele und wieder klar sehen kann, erkenne ich den Mann vor mir.

Es ist Hangman.

Ich blicke verwirrt an ihm hinunter. Er trägt nur einen Pullover mit seinem Namen und dem Logo der Navi. Seine Jeans ist zerknittert.

Wie Rooster und ich ist er genauso wenig in Uniform gekommen.

"Ja", stottere ich, "alles okay."

Hangman klopft mir kurz auf die Schulter und setzt sich dann neben mich: "Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber sieht nicht danach aus, Vic'."

Ich merke, wie ich irritiert antworte: "Du nennst mich Vic'??"

"Ja", antwortet er, "wieso denn auch nicht?"

"Mich dürfen nur Freunde so nennen.", antworte ich irritiert.

Hangman sieht mich getrübt an, dann tut er so, als würde ich ihm ein Messer ins Herz rammen und zieht eine Grimasse: "Wir sind keine Freunde?!"

Ich lache laut auf und vergesse komplett was eben geschehen ist, denn Hangman schüttelt mich sanft.

Dann fängt er an, Sachen ironisch und viel zu enthusiastisch zu rufen - wie in einem sehr schlechten Theaterstück:

"Wir sind keine Freunde!? Du brichst mir das Herz, wieso tust du das!?"

Ich kichere und will sofort dagegenreden, aber er lässt mich schon wieder los und lehnt sich grinsend zurück, während er sich ein paar Chips in den Mund wirft, die er aus dem Automaten hat.

Er hält mir die Tüte auffordernd hin und ich nehme mir ein paar Chips heraus.

Schnippisch grinst er mich an, doch dann stoßen Rooster und der Arzt zu uns. Sofort stehen wir auf und der Arzt schüttelt unser beider Hände: "Mein Name ist Doctor Grayman. Bob und Phoenix geht es gut, wir entlassen sie morgen früh. Allerdings müssen sie sich vor jedem Flug durchchecken lassen. Zimmer 23 und 24. Muntern Sie sie auf, sie können es brauchen. Studien zeigen deutlich, dass die Ausstiege mit dem Sprungsitz meistens mehr auf die Psyche schlagen, als auf den Körper. Wenn Sie mich entschuldigen.."

Wir drei nicken dankbar, dann herrscht peinliche Stille. Hangman blickt öfters zwischen uns hin und her: "Wollt ihr zuerst oder - .."

Ich unterbreche ihn: "Geh du zuerst. Wir besuchen Bob." Hangman lächelt, aber lässt es dann schnell absterben: "Ihr könnt ruhig zuerst zu Phoenix, es ist nicht -"

Ich lege meine Hände auf seine Schultern und flüstere eindringlich: "Geh zu ihr. Jake Serensin, und zwar jetzt. Das war ein Befehl."

Er nickt und drängelt sich dann an uns vorbei zur Tür. Bevor er ganz verschwindet, gehen Rooster und ich an ihm vorbei in Richtung Zimmer 24. Ich flüstere im Vorbeigehen und lächle ihn an: "Nenn mich Vic'. Du brauchst dir kein Messer in die Brust zu rammen."

Sein Grinsen verrät mir, dass er sich freut, obwohl er es mal wieder in der Tür verstecken will.

TᴏᴘGᴜɴ - Rᴇᴅ SᴜɴʀɪꜱᴇWo Geschichten leben. Entdecke jetzt