He's in the Rain

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Jisung Pov:

Langsam trugen meine Füße mich nach hause. Regen peitschte mir ins Gesicht, was mich dazu veranlasste, die Kapuze noch tiefer ins Gesicht zu ziehen. Der Gehweg war menschenleer. Kein Wunder, schließlich waren die Urzeit und das Wetter nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um jetzt noch unterwegs zu sein. Im Schein der Straßenlaternen sah ich ab und an ein Auto an mir vorbeifahren.

Normalerweise hatte ich auf dem nach Hause weg immer Kopfhörer in den Ohren, doch heute war es anders. Ich genoss das Geräusch, dass die Regentropfen auf dem Asphalt hinterließen. Auf eine merkwürdige Art und Weise spendete es mir Trost. Ich brauchte es. Mein Blick richtete sich nach oben, wo er auf eine dunkle, graue Wolkenwand stieß. Kein Mond, keine Sterne waren in dieser Nacht zu sehen.

Ich vermisste ihn.

Vermisste seine Wärme, seinen Geruch, sein Lächeln, seinen Charakter, einfach alles.
Wieso hatte es so kommen müssen?

Ich blieb stehen. Tränen sammelten sich in meinen Augen, bevor sie unter schluchzen meine Wangen hinab tropften. Dort vermischten sie sich mit dem Regen, welcher weiter unermüdlich auf mich herab prasselte. Ich sank in die Knie und ließ meinen Kopf auf diese fallen, um dann meine Arme um mich zu schließen.

Ich wollte nie, dass es so endet.

Ich ließ meinen Emotionen freien Lauf. Ich hatte sie sowieso viel zu lange unterdrückt. Ich verlor mein Zeitgefühl. Ich wusste nicht wie lange ich so auf dem durchnässten Gehweg hockte. Ich wusste auch nicht, was das bringen sollte.

Monatelang hatte ich jeden Tag voller Angst darauf gewartet, dass genau diese Nachricht mich erreichen würde. Die Nachricht, dass alles umsonst gewesen war. Die Nachricht, dass mein Bruder nicht mehr aus seinem Koma erwachen würde. Die Nachricht, dass er mich verlassen hatte.
Genau diese Nachricht hatte ich am Nachmittag bekommen.

Mein großer Bruder war vor einem halben Jahr in einen schweren Autounfall verwickelt worden. So ein scheiß LKW Fahrer war betrunken gefahren und hatte das Auto meines Bruders nicht gesehen. Das Arschloch hatte bloß etwas Geld bezahlen müssen und seinen Führerschein verloren. Das war alles. Nichts weiter.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten.

Trotz der Tatsache, dass die Ärzte kaum Hoffnung für meinen Bruder hatten, so hatte ich sie gehabt. Genauso, wie ich auf die negative Nachricht gewartet hatte, so hatte ich auch auf eine gute gehofft. Das mich eines morgens ein Artzt anrufen würde, um mir mitzuteilen, dass er aufgewacht war. Das er sich wieder erholen würde und wir genau diesen Weg, den ich im Moment alleine ging wieder zusammen laufen würden. Ich weiß, dass es naiv war, sowas zu denken, aber so war ich nun mal. Ich versuchte immer positiv zu denken. So hatte ich mir auch dieses mal wieder eingeredet, dass alles wieder gut wird.

Ein Beben ging durch meinen Körper, als ich verzweifelt nach Luft schnappte. Die Tränen vielen weiter. Ich hatte keine Kontrolle über sie. Sobald sie meine Augen verließen, bahnten sie sich selbst ihren Weg hinab auf die Erde.

Es schien alles so unwirklich in diesem Moment. Ich schrie. Es war mir egal, ob einige wenige Menschen, die sich gerade in meiner Nähe befanden, sich verwundert zu mir umdrehen würden. Es war alles egal. Ich schrie erneut. Versuchte alles rauszulassen in der Hoffnung, dass es mir danach besser gehen würde, doch so war es nicht. Das Bild meines Toten Bruders auf der Krankenliege im Krankenhaus ließ mich einfach nicht los. Es hatte sich tief in meine Netzhaut gebrannt und war von nun an ein Teil meines Lebens, der mich nicht mehr loslassen würde.

Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf. Mein Gehirn brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass das nur ein Traum gewesen war. Dieser Vorfall war inzwischen fast zwei Monate her, doch er belastete mich immernoch sehr. Zitternd griff ich zu dem Glas neben meinem Bett. Ich nahm einen schluck, bevor ich mein Glas  wieder wegstellte und mir stattdessen mein Handy griff, um zu schauen, wie spät es war. 6:05 Uhr. Mein Wecker würde in 20 Minuten klingeln, also machte es keinen Sinn, jetzt nochmal zu schlafen.

Seufzend kuschelte ich mich noch einmal in meine Bettdecke, und starrte die decke über mir an. Heute war mein erster Tag an der neuen Schule.

Nachdem mein Bruder uns verlassen hatte, bestand ich darauf, die Schule zu wechlen. Ich brauchte Abwechslung, um mich von dem, was passiert war abzulenken, zumal ich an meiner alten Schule auch gemobbt wurde. Ich wusste nicht mal warum. Sie hatten sich über mich lustig gemacht. Darüber, dass ich meine Gefühle mithilfe von Songs zum Ausdruck brachte. Gut versteckt, da nicht viele Leute auf die Lyrics eines Liedes achteten. Darüber, dass mein Körper angeblich viel zu feminin sei. Darüber, dass ich Wert auf gute Noten legte. Sie hatten sich auch über Jihyun, meinen Bruder lustig gemacht, da sie auch ihn für einen "Streber" hielten. Jetzt, wo er tot war, hätte ich mir sicher eine menge Sprüche anhören müssen und das hätte ich nicht ausgehalten.

Ich schlug meine Bettdecke zur Seite. Ich setzte mich auf und fuhr mir erneut seufzend durch die Haare. Anschließend stand ich auf und schlurfte ins Bad, wo ich erst einmal duschte und mich fertig machte. Als Outfit wählte ich eine einfache Jeans und einen Oversized Hoodie.
Ich sah mich noch einmal kurz im Spiegel an und richtete meine dunkelbraunen Haare, dann stieg ich die Treppe nach unten in unsere kleine Küche.

,,Guten Morgen, mein Schatz." Meine Mutter stand mit einem müden Lächeln bereits in der Küche und deckte den Tisch. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Der tot meines Bruders machte uns allen zu schaffen. ,,Morgen." Murmelte ich und half ihr, den Tisch fertig zu decken.

Schließlich kam auch mein Vater in die Küche. Er sprach schon immer sehr wenig und war eher kühl und verschlossen, was nicht heißen soll, dass er herzlos ist. Doch seit Jihyuns tot sprach er so gut wie gar nicht mehr und starrte immer nur in die Leere.

Ich biss herzhaft in einen Toast und sah hinüber zu meinem Vater, der an seinem Kaffee schlürfend, nachdenklich aus dem Fenster blickte.

Nachdem ich fertig gegessen hatte, warf ich mir meinen Rucksack über die Schultern und wünschte meinen Eltern noch einen schönen Tag, bevor ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen ließ.

Meine Mutter würde auf Arbeit sein, wenn ich wieder nach Hause komme und mein Vater würde wahrscheinlich wieder in seinem Arbeitszimmer sitzen und einfach gar nichts tun. Nach Jihyuns tot ging er nicht mehr zur Arbeit, was zu Folge hatte, dass er schließlich gefeuert wurde.

Ich setzte mir Kopfhörer auf und machte mich auf den Weg zu meiner neuen Schule...

NOEASY (Minsung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt