09 | Der Tresor

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Palermo hielt eine Ansprache über die menschliche Anatomie, etwa, dass ein Mensch nur zwei Augen mit einer eingeschränkten Sicht hatte. So jedenfalls versuchte er die Wachmänner des Gobernadors davon zu überzeugen, Tokyo und Nairobi nicht zu erschießen. Andernfalls würde einer von uns ebenfalls zum Täter werden.

Ich hatte nie Mordgedanken, fand solche sogar abscheulich. Aber als ich auf die Wachmänner zielte, die meine Frau bedrohten, zweifelte ich nicht eine Sekunde daran, den Abzug betätigen zu können, wenn es darauf ankam.

Tokyo und Nairobi standen Rücken an Rücken, jeweils zwei Pistolen in den Händen. Aber die fünf Wachmänner blieben einer zu viel.

,,Waffe runter oder ich schieße!", brüllte ich von oben herab.

,,Wir alle!", bestätigte Helsinki, der auf der anderen Seite auf die Leibwächter zielte.

Fast alle folgten unserer Anweisung, nur einer nicht. Ich erkannte ihn von unseren Unterrichtseinheiten wieder. Caesar Gandia, ein anerkannter Volksheld, der nicht zum ersten Mal tötete. ,,Ist es Ihnen wirklich wichtiger, eine verlorene Schlacht zu bestreiten, anstatt nach dem Überfall zu Ihrer Familie zurückzukehren?", fragte ich. Selbst skrupellose Mörder kannten Schwachstellen.

,,Niemand nimmt die Waffen runter", befahl Gandia seiner Truppe.

,,Was werden Ihre Söhne davon halten?", führte Palermo mein Beispiel fort.

Ich versuchte ruhig zu bleiben, aber die Pistole in meiner Hand zitterte. ,,Ohne einen Vater aufzuwachsen ist nicht leicht. Besonders dann, wenn er gestorben ist, um zu zeigen, wer die dicksten Eier hat."

,,Hexen wie du wurden früher verbrannt, also hüte deine Zunge", knurrte er. Ich vermutete eine Anspielung auf meine Haarfarbe und fand es überhaupt nicht lustig. Lebte er im Mittelalter?

Meine Zauberkraft bestand höchstens darin, eine Kugel genau auf die Stelle abzufeuern, die einem Mann wirklich wehtat. Wenn er mich weiter provozierte, zog ich es in Erwägung, meiner Drohung Taten folgen zu lassen.

Und eine Sekunde später brach Chaos aus. Ich hatte keine Ahnung, wer zuerst schoss. Ich sah nur noch Tokyo, die Nairobi mit auf den Boden warf und sie dabei vor Gandias Schüssen schützte. Unsere beiden Komplizinnen schlugen sich gut, aber die Leibwächter zielten auch auf uns.

Glasvitrinen splitterten, es knallte und ich bezweifelte, dass irgendjemand noch wusste, wohin er überhaupt zielte. Palermo fiel mitten in eine solche Glasvitrine und ich schoss nach unten, um ihn und mich vor weiteren Schüssen zu schützen. Palermo schrie vor Schmerz, aber ich erkannte nicht, weshalb.

Tokyo und Nairobi schafften es immerhin, unten das Ruder wieder an sich zu reißen. Sie überwältigten die Leibwächter mit Helsinkis Hilfe und ich kniete neben Palermo, der meine Hilfe verweigerte. Er fluchte auf italienisch und ich musste mich fast übergeben, als ich sah, warum er solche Schmerzen erlitt.

Glassplitter bohren sich in seine Augen, die gerötet waren und die er nicht eigenständig öffnen konnte. ,,ICH BRAUCH HILFE!", brüllte ich nach unten. ,,SCHNELL!"

•••

Einen blinden Anführer zu haben war nicht ideal. Er weigerte sich, sich einer Behandlung á la Tokyo zu unterziehen, was ich prinzipiell verstand. Sonst war allerdings keiner scharf darauf, Glassplitter aus seinem Auge zu fischen, also gab es keine große Alternative.

Palermo trug nun eine Augenklappe und war entschlossener denn je. ,,Nairobi, Sydney und Bogotá...."
Er legte eine kleine Pause ein, damit wir bestätigten, noch hier zu sein. Das passte ihm anscheinend auch nicht. ,,Raus hier, ihr müsst euch um den Tresor kümmern!"

Bogotá, Denver und Helsinki verschwanden, um unten alles vorzubereiten. Nairobi kümmerte sich darum "Freiwillige" unter den Geiseln zu finden, die eigentlich von Anfang an mit uns unter einer Decke steckten und ich kümmerte mich darum, die Leibwächter des Gobernadors mit Handschellen an eine Stange zu ketten.

,,Siehst du diesen Finger?", hörte ich Nairobi sagen. Ohne mich umzudrehen wusste ich, dass sie Matthias mit ihrem ausgestreckten Mittelfinger "bedrohte". Er arbeitete mit uns zusammen, beteuerte aber unbedingt vor den anderen Geiseln, kein Freiwilliger zu sein. ,,Und dieser Finger zeigt auf die Freiwilligen."

,,Die kleine Mischlingsbraut ist wohl deine Freundin."
Natürlich wachte Gandía zuerst wieder auf und rüttelte an den Handschellen.

,,Ich spreche nicht mit Rassisten", antwortete ich knapp, während ich die Taschen des Gobernadors nach den Schlüsseln für den Tresorraum durchsuchte. Dass er wütend auf Nairobi war, weil sie ihn entführte war verständlich, aber seine rassistischen Kommentare konnte er sich sonst wohin schieben.

Gandia beugte sich so weit in meine Richtung, wie es ihm möglich war.
,,Aus meiner Erfahrung nehmen Lesben sowieso alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Anders kann ich nicht erklären, warum die Tochter einer hoch angesehenen Inspektora plötzlich zum Abschaum der Gesellschaft wird."

Anscheinend erinnerte Gandía sich langsam wieder an unere Gesichter wegen dem letzten Überfall. ,,Ganz schön mutig für einen Mann, den ich ganz leicht in seine Eier treten kann... Wobei ich bezweifle, dass es viel zu treten gibt, denn Eier hast du anscheinend nicht."

,,Sydney, wir müssen los!", rief Nairobi mir zu, die Mister Ich bin kein Freiwilliger und unsere Schmelzer im Schlepptau hatte.

Gemeinsam begaben wir uns in den Aufzug, der uns nach unten in den Tresorraum führte. ,,Was sollte das denn?", fuhr Nairobi sofort Matthias an.

,,Es sollte glaubwürdig sein", verteidigte dieser seine Aktion.

,,Du bist ein Idiot. Kaum zu fassen, dass ich mit ihm zusammenarbeite", knurrte Bogotá, Nairobi gab unserem Freiwilligen einen Klaps auf den Hinterkopf.

•••

Berlins Plan, die massive Metalltür des Tresorraums zu Schmelzen, bevor der Wasserdruck uns am Erfolg hinderte, war reiner Wahnsinn. Aber er funktionierte.

Unsere Schmelzer leisteten hervorragende Arbeit, setzten die Röhre für den Druckausgleich in das kreisrunde Loch ein und schweißten alles zu, sodass kein Tropfen aus dem in wenigen Minuten überfluteten Tresorraum nach draußen gelang.

Das kostete Nairobi und mich etwa zehn Nervenzusammenbrüche, aber sobald der dröhnende Alarm versiegte und das Licht wieder den Tresorraum erhellte, sprang ich kreischend in ihre Arme. Nairobi hob mich hoch, drehte sich zweimal im Kreis und setzte mich wieder ab, die Schmelzer jubelten.

,,Du hast recht. Wir sind verdammte Gewinner!", sagte ich Nairobi, die mir eine Sauerstoffflasche reichte.

,,Komm schon, ich will das Gold sehen"
Sie öffnete den Reißverschluss ihres Overalls, unter dem wir zusätzlich schon die knallroten Neoprenanzüge trugen. Ich tat es ihr gleich.

Über das Gold machte ich mir bis zu diesem Punkt am wenigsten Gedanken. Mein Antrieb, bei diesem Überfall dabei zu sein, hieß Rio.
Aber als ich die Tauchausrüstung anzog, nahm ich Vorfreude wahr. In diesem Tresor warteten 90 Tonnen Gold. Nie wieder würde ich etwas vergleichbares zu Gesicht bekommen.

Zuerst stieg Nairobi in die Röhre. Ungeduldig wartete ich, dann war ich an die Reihe.

Ich wusste nicht, warum, aber als ich die Tauchmaske aufsetzte und darauf wartete, bis die Röhre sich mit Wasser füllte, lachte ich.












Criminal Passion [2] ˡᵃ ᶜᵃˢᵃ ᵈᵉ ᵖᵃᵖᵉˡ ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt