31 | lo siento

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Es dauerte mindestens eine Stunde bis ich es schaffte, aus dem Auto zu entkommen. Letztendlich gelang es mir, Mamás Haustürschlüssel zu verwenden, um die Fensterscheibe einzuschlagen. Dank der vielen erfolglosen Versuche bluteten meine Fingerknöchel, aber das war es wert gewesen. Schlussendlich trat ich so lange auf die kaputte Scheibe ein, bis das Loch reichte, um mich hindurchzuzwängen.

Was, wenn ich zu spät komme?

Ich kannte den Professor, als auch meine Mutter. Keiner von beiden würde klein bei geben und bis zum bitteren Ende kämpfen.

Ich rannte über den feuchten Boden. Wasser schwappte in meine Schuhe. Mit klopfendem Herzen näherte ich mich dem Ort des Geschehens: das tiefste Innere des Regenüberlaufbeckens.

Ein tiefer Schrei. Ein Klirren. Verflucht!

Das trübe, flackernde Licht verwandelte die Szenerie in den Beginn eines Horrorfilms. Ich rannte weiter, immer weiter.

,,Sydney?", Die Stimme war nur ein Flüstern. Die Person, die sprach, saß auf einem rostigen Stuhl.

Ein Ruck ging durch meinen Körper, eine Mischung aus Schock und Überraschung. ,,Nairobi", hauchte ich.

Alles war vergessen. Meine Mutter, der Professor, einfach alles. Mit weichen Knien machte ich vor der schwarzhaarigen Schönheit Halt und starrte sie an, als wäre sie nur eine Einbildung. Ein Geist. ,,Bist du es wirklich? ... Ich... Ich dachte, ich sehe dich nie wieder..." Millionen von Emotionen strömten gleichzeitig auf mich ein.

Nairobi rang sich ein Lächeln ab. ,,Beruhige dich, cariña, ich lebe ja noch."

,,Mach keine Witze darüber, ja? Tamayo hat dich vor ganz Spanien tot erklärt."

Ich ging vor ihr in die Hocke und zog sie in eine innige und etwas hysterische Umarmung. Wieder ihren Geruch einzuatmen, ihre Stimme zu hören, beruhigte mich. ,,Du hast diesem Hampelmann doch nicht etwa geglaubt, dass ich tot bin, oder? Als ob ich sterben würde, ohne mich von dir zu verabschieden."

,,Ich sagte, du sollst still sein. Es ist zu früh, um Witze darüber zu machen. Du wärst zweimal fast gestorben", wiederholte ich schluchzend.

Nairobi erwiderte meine Umarmung nicht. Ihre Hände waren mit Handschellen an der Stuhllehne befestigt. Ihre Beine wurden mit Kabelbindern an den Stuhlbeinen fixiert. Vielleicht hätte mein erster Instinkt ihre Befreiung sein sollen, aber soweit dachte ich gerade nicht. Die Erleichtung besiegte alles.

,,Sie verstehen hier etwas nicht! NIEMALS verrate ich meine Leute, verstehen Sie? NIEMALS!! Der Plan ist so konzipiert, dass jeder Rückschlag eingerechnet ist. Auch mein Tod. Also kommen Sie, Werfen Sie mich schon in dieses verfluchte Wasser, Alicia! Oder noch besser: ERSCHIEßEN SIE MICH! ICH FREU MICH DRAUF! FEUERN SIE IHR VERDAMMTES MAGAZIN LEER. NA LOS, MACHEN SIE SCHON! MACHEN SIE SCHON!"

,,Verdammt", murmelte ich alarmiert, als die Stimme des Professors tausendfach von den Wänden hallte.

,,Sie wird ihn nicht erschießen", sagte Nairobi, als ich losstürmen wollte und... Ja, was eigentlich? ,,Damit wäre sie ihr wichtigstes Druckmittel los. Die Polizei braucht ihn lebend, solange sie nicht wissen, wie das Gold rausgeschafft wird."

,,Aber wir können das nicht riskieren", zischte ich so leise wie möglich.

,,Müssen wir. Du musst dich verstecken. Du bist verdammt nochmal die einzige, die Alicia jetzt noch aufhalten kann. Aber es muss im richtigen Moment geschehen, verstehst du? Wenn sie dich wieder erwischt, sind wir verloren."

,,Aber du..."

,,Ich komme zurecht", unterbrach Nairobi mich. ,,Du weißt, dass es vorbei ist, wenn Sierra ihre Kollegen herholt. Der Professor hat es immer wieder betont."
,,Es gibt keinen Plan B für das Regenüberlaufbecken", wiederholte ich die Worte des Professors.

Der Plan war nicht perfekt. Nicht so lückenlos durchdacht wie der andere. Das Gold gelangte nur hierher. Es gab keine andere Möglichkeit, es aus der Bank zu schaffen. Wir wussten beide, dass wir nicht zulassen durften, dass Alicia die Polizei herrief. Solange sie eine Einzelkämpferin war, hatten wir noch eine Chance.

,,Ich lasse dich nicht im Stich."

,,Ich weiß", sagte Nairobi mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. ,,Deshalb habe ich dich geheiratet. Weil man sich auf dich verlassen kann. Weil du, egal wie schlecht die Dinge stehen, nie deine eigenen Morale missachtest. Und weil du mir das Leben gerettet hast."

Geräusche. Das Rascheln von Ketten. ,,Ich hoffe, das war dir eine Lehre, Sergio", sagte Mamá.

Mein Stichwort zu verschwinden. Ich flüchtete auf das Hochbett des Professors, das in einer besonders dunklen Ecke stand. Wie schlief man hier in Ruhe? Nun, viel Schlaf hatte der Professor wahrscheinlich auch nicht abbekommen.

Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, denn das Bett knarrte verdächtig, wenn man sich zu viel bewegte. Die ganze Zeit überkam mich zusätzlich das Gefühl, mein Herz würde vor Aufregung aus der Brust springen. War es möglich, dass Mamá mich längst gehört hatte? Wie lange hielt ich diese Tarnung aufrecht? Wie sollte ich es nur im Alleingang schaffen, Mamá aufzuhalten?

,,Warum hast du mich nicht getötet?", fragte der Professor. Er war klitschnass und um seinen Bauch war eine dicke Kette gespannt. Was zur Hölle hatte Mamá ihm angetan?

Alicia lächelte diabolisch. ,,Das würde die Show zerstören, nicht wahr? Du leidest nicht und uns allen entgeht die Reaktion deiner Kollegen, wenn sie deine Stimme zum letzten Mal hören."

,,Du machst es dir unnötig schwer, Alicia. Arbeite mit uns, nicht gegen uns. Es wird sich auszahlen", warf Nairobi ein.

Alicia brach in schallendes Gelächter aus. ,,Das nehme ich dir nicht ab, Schätzchen. Ich wollte deinen Tod."

,,Und ich bin immer noch am Leben."

,,Noch."

Ich ballte meine Hand zu einer Faust.

Alicia aber zog das Telefon heran, das der Professor immer für Anrufe in die Bank nutzte. ,,Du darfst deinen treuen Minions jetzt verkünden, dass du verloren hast, Sergio." Alicia drückte auf 'wählen' und es piepte.

,,Sergio?", hörte ich Raquels Stimme. Etwas zog sich in mir zusammen. ,,Wir haben fast alles aus dem Tresor geräumt. Der Transport kann bald beginnen."

,,Nein, wird er nicht." Der Professor zitterte. ,,Das wird voraussichtlich das letzte Mal sein, dass ich mit euch spreche. Alicia hat das Regenüberlaufbecken gefunden."

Im Hintergrund hörte ich Stimmen, die durcheinander sprachen. Verdammt, ich vermisste meine Freunde in der Bank! Obwohl ich ungern mit ihnen tauschen würde. Hier draußen besiegt zu werden war etwas anderes, als in der Bank auf das Ende zu warten.

,,Hallo meine lieben Bankräuber", sprach Alicia in den Hörer. ,,Bevor ich wieder auflege... Irgendwelche letzten Worte?"

Eine lange Pause entstand. ,,Es tut mir Leid, Raquel. Es tut mir sehr Leid, Rio. Es tut mir Leid, Palermo. Es tut mir Leid, Helsinki. Es tut mir Leid, Denver. Es tut mir sehr leid, Manila. Es tut mir Leid, Bogota. Es tut mir Leid, Stockholm." Er schluchzte leise. ,,Tokyo, es tut mir unendlich Leid. Es tut mir wirklich Leid."

,,Das reicht. Wenn Sie auch noch die Geiseln grüßen, sitzen wir morgen immer noch am Telefon."

Der Professor schwieg, als Alicia sich an unsere Freunde wandte. ,,Nein wirklich, ich telefoniere gerne mit euch. Wir könnten eine Gruppentherapie abhalten und gemeinsam unsere cleveren Strategien besprechen wir das Frettchen im Abwasserschacht. Aber die Wahrheit ist, dass wir hier schon genug zu besprechen haben. Over and out, meine süßen Gangster."

Sie legte auf.

Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit konnte ich bis hier spüren.



•••




Ich wünsche euch allen ein schönes neues Jahr <3

Criminal Passion [2] ˡᵃ ᶜᵃˢᵃ ᵈᵉ ᵖᵃᵖᵉˡ ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt