26 | Familie ist alles

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,,Er hat dich sehr geliebt", sagte Mamá tonlos und kramte lustlos in der Schachtel mit den Schokobons herum. Stumme Tränen krochen über meine Wangen und meine zitternden Hände umklammerten den Kaffeebecher.

Ich konnte mich nicht verabschieden.

,,Es ging alles sehr schnell. Gérman war gut darin, seine Schmerzen zu überspielen, aber ich habe jeden Tag gesehen, wie es ihn innerlich zerfrisst. Kurz vor seinem Tod, da... ich habe für ihn gewünscht, dass es endlich zuende ist."

,,Wie kannst du das sagen?", flüsterte ich entsetzt.

,,Der Tod war eine Erlösung, Maddie. Ihm zuzusehen wie er gegen diesen unsichtbaren Gegner kämpft, war grausam. Und dann hat dieser Idiot sich auch noch entschieden, die Schmerzmittel sparsam einzusetzen, weil er für dieses verdammte Kind da sein wollte. Er konnte nicht mehr - und ich auch nicht."

Meine Faust krachte auf die Tischplatte. ,,Mein Vater ist tot und du bist eine verfluchte Psychopathin! Selbst ein Roboter ist einfühlsamer als du! Nachdem du mehrere Gelegenheiten verpasst hast, mir die Wahrheit zu sagen, versuchst du meine Freundin zu exekutieren und hast tatsächlich die Dreistigkeit, dich zu freuen, dass er gestorben ist!

Das saß. Hörbar schob Mamá ihren Stuhl zurück und klemmte eine Zigarette zwischen ihre Lippen. Ohne etwas zu sagen, rauschte sie davon.

,,Das war nicht fair." Raquel hatte sich während unseres Gespräches zurückgezogen. Die Handschellen raschelten, als sie sich bewegte und wieder auf den Platz neben mir sank. ,,Deine Mutter ist moralisch fragwürdig, sie trifft falsche Entscheidungen und ist bestimmt keine Heilige, aber sie hat Gérman geliebt. Er hat ihr die Welt bedeutet, nachdem du fort warst. Gérman hat das Beste in ihr zum Vorschein gebracht. Seinen Verlust hat sie weder verarbeitet, noch verkraftet."

,,Sie hat gehofft, dass es zuende geht."

Raquel nickte traurig. ,,Dein Vater hatte eine aggressive, unheilbare Krankheit. Die Schmerzen will ich mir nicht ausmalen. Und sosehr ich ihm immer nur das Beste gewünscht habe, ist der Tod manchmal eine Gnade. Das ist schwer zu akzeptieren, aber den armen Mann über Monate oder Jahre nur gerade so am Leben erhalten... das ist im Grunde kein Leben."

Aufsteigende Schuldgefühle nagten an mir. Raquel hatte Recht. Ich war nicht für Papa dagewesen, als er mich am meisten brauchte. Mamá schon. Sie war diejenige, die bis zum Ende an seiner Seite blieb.

,,Was mache ich, wenn ich Nairobi auch verliere? Dann habe ich niemanden mehr, Raquel", hauchte ich und wischte mir mit dem tränennassen Ärmel erneut über die Augen.

Raquel sah mich ernst an. ,,Du hast mich. Ich werde dich nicht im Stich lassen. Falls Sergio scheitert sind wir vielleicht sogar Zellengenossinnen."
Gegen meinen Willen lachte ich. ,,Scheiße, wir sind echt tief gesunken."
,,Dazu wird es nicht kommen, okay? Nairobi ist eine Kämpferin und wird ebenso wenig aufgeben wie Sergio. Wir kommen hier raus - gemeinsam."

Einige Minuten später kehrte Mamá mit einem Stapel Akten unter dem Arm zurück. Ein klares Zeichen dafür, dass wir uns wieder den Verhandlungen widmeten. Aber das ging nicht. Ich wollte nicht, dass ausgerechnet Gérman zwischen uns stand. Das verdiente er nicht. ,,Mamá? Es tut mir Leid. Du hast dein Bestes gegeben und wenn es nicht genug war... Anscheinend hat der verdammte Himmel einfach einen Engel gebraucht."

Alicias Augen waren glasig.

Zögerlich fuhr ich fort. ,,Kannst du bitte mit dem Rauchen aufhören? Das Baby kann nichts dafür, dass er tot ist."

Immer noch schweigend legte Alicia die Zigarette auf den Tisch, die sie vorhin mitgenommen hatte. Unbenutzt.

,,Du hast nicht...?"

Sie schüttelte den Kopf. ,,Nicht mehr."

Ich lächelte.

•••

,,Ich kann nicht schlafen", meldete ich mich mit piepsiger Stimme zu Wort, wann immer ich als Kind aufwachte und ins Bett meiner Eltern kroch.

Mamá brummte im Halbschlaf undeutliche Worte und gähnte. Gérman dagegen saß augenblicklich hellwach in seinem Bett und klopfte neben sich. ,,Deine Mutter ist eben erst aus dem Nachtdienst zurückgekommen. Leg dich zu mir", flüsterte er.

Gérman wohnte noch nicht lange bei uns. Obwohl ich ihn mochte, herrschte noch nicht dasselbe Vertrauensverhältnis wie mit meiner Mutter. Den Stoffhasen an meine Brust gedrückt, tapste ich auf Gérmans Hälfte. ,,Soll ich dir etwas vorlesen?", fragte er leise.

Ich nickte eifrig. Ich liebte es, wenn er vorlas und den Charakteren verschiedene Stimmen schenkte. Auch dieses Mal hing ich gebannt an seinen Lippen. Leider blieb ich hellwach, auch dann, als Gérman das Buch wieder zuklappte. ,,Immer noch nicht müde?"
Ich schüttelte den Kopf.
,,Hunger?"
Ich war gewillt zu verneinen, registrierte dann aber meinen knurrenden Magen. ,,Kann ich Eis haben?"

Gérman und ich saßen im spärlich beleuchteten Wohnzimmer. Auf meinem Schoß stand ein Schälchen mit zwei Kugeln Schokoeis, die ich gierig löffelte. ,,Erzähl das nicht deiner Mutter." Schelmisch zwinkerte er mir zu und wuschelte durch mein Haar.

,,Das bleibt unser Geheimnis", versprach ich und wischte mit der Hand über meinen Schokoladenmund. Gähnend lehnte ich mich an ihn. ,,Du bist der beste Papa der Welt."

Papa. Ich hatte ihn noch nie Papa genannt. Es fühlte sich großartig an.

In der Erwartung ein stolzes oder glückliches Lächeln zu sehen, richtete ich mich auf. Gérmans Kopf war zur Seite gekippt. Reglos saß er auf dem Sofa, die Augen weit aufgerissen und glasklar. ,,Papa?", fragte ich ängstlich, stolperte ein paar Schritte zurück.

Meine Ferse stieß auf Wiederstand. Taumelnd verlor ich das Gleichgewicht und krachte rücklings auf den Boden.

Ich schrie.

Es war kein Gegenstand, sondern eine Person.

Ein klaffendes Loch prangte an ihrer Brust, aus dem Blut quoll. Ihre starren Augen schienen durch mich hindurchzusehen. Sie war tot - genau wie Gérman.

Nairobi.

Nein, nein nein!
Nicht sie.
Ich ertrug es nicht, weitere Menschen zu verlieren.

,,Schachmatt meine lieben Bankräuber." Die Stimme meiner Mutter hallte durch meinen Kopf. Sie drehte die Pistole in ihrer Hand und lachte. Dann löste sich ein Schuss

•••

Mein verspannter Rücken weckte mich aus dem kurzen Schlaf. Ich war im Sitzen an einem Verhörtisch aus Plastik eingeschlafen und gähnte. Mein tauber Arm kribbelte. Raquel schlief in einer ähnlichen Position neben mir. Ich würde der Polizei später meine Arztrechnung zukommen lassen. Ein Bett in irgendeiner Zelle hätte mir ja schon gereicht. Andererseits war an Schlaf kaum zu denken. Die Sache mit Gérman und Nairobi hielt mich stundenlang wach und folgte mir bis in die Träume.

,,Wir senden die Pressemittelung in einer Stunde - spätestens!", hörte ich Tamayo schreien. Die Zeltwände hielten den Schall nicht auf, dämpften ihn höchstens ein wenig.

,,Aber Coronel. Sierra hat den Vorschlag abgelehnt", antwortete Antoñanzas zögernd. Von Raquel erfuhr ich, dass er gegen Bezahlung Mitteilungen des Professors an uns überlieferte.

Tamayos Augenrollen konnte ich nicht sehen, dafür aber bildlich imaginären. ,,Sierras Hormone drehen durch, seit ihre Tochter verhaftet wurde. Würde mich nicht wundern, wenn sie den Schreihals auf meinem Schreibtisch gebärt!"

,,Was soll das..."

,,Das soll heißen, dass mir scheißegal ist, ob Sierra einverstanden ist oder nicht!", brüllte Tamayo unnötig laut.

,,Aber Coronel..."

,,Meine Güte, machen Sie Ihre Arbeit, Antoñanzas und hören Sie auf, mich zu nerven! Je früher die Bevölkerung von Nairobis Tod erfährt, desto besser!"

Criminal Passion [2] ˡᵃ ᶜᵃˢᵃ ᵈᵉ ᵖᵃᵖᵉˡ ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt