39 | Neue Bündnisse

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ALICIA SIERRA

Eine turbulente und nervenaufreibende Flucht vor der Polizei lag hinter Sergio und mir. Und wer war an diesem Schlamassel Schuld? Natürlich ich!

Aus einer Laune heraus verließ ich den Unterschlupf des Professors, stahl ein Auto und rauschte davon. Er verfolgte mich, ich gewann das Battle. Mal ehrlich, ich hatte gerade ein Kind geboren. Der Professor sollte sich mehr Mühe geben!

Jedenfalls unternahm ich den Versuch, ihn an Tamayo auszuliefern. Stattdessen beschloss dieser Vollpfosten, mich zu opfern, um seinen eigenen Arsch zu retten. Ich war fertig mit der Polizei. Adios, Bitches! Alicia Sierra ist raus.

Dank dieser Auseinandersetzung waren der Professor und ich gezwungen, aus dem zweiten Stock von Tamayos Haus zu klettern und uns mit einem neugeborenen Baby im Sofa einer anderen Wohnung zu verstecken. Die Familie war wohl im Urlaub oder so ähnlich. Dank Victoria wurden wir fast entdeckt, aber die Katze der fremden Familie rettete uns. Lange Rede, kurzer Sinn: Jetzt saßen wir in unangenehmer Stille nebeneinander auf dem Sofa und aßen Spiegelei. Das Kratzen der Gabeln auf dem Teller waren die einzigen Geräusche. Draußen vor dem Fenster leuchtete das Blaulicht.

Ich war müde. Müde, den Professor zu hassen und Maddies Übergang zu retten. Wozu? All das war verschwendete Zeit gewesen. Am Ende des Tages verdankte ich Sergio die Geburt meiner Tochter und meine Freiheit.

Die Leere überkam mich schlagartig. Die endlose Verbrecherjagd hatte die vergangenen Monate mit einem Sinn gefüllt. Jetzt wurde mir bewusst, wie düster meine Zukunft aussah. Meine Entscheidungen hatten dazu geführt, dass Victoria auf der Flucht aufwuchs. Und nicht nur das: Meinetwegen wäre die Freundin meiner anderen Tochter beinahe gestorben und wenn ich an Anibal Cortes dachte... Ich schluckte.

Gérman würde sich schämen.

Ich kämpfte nicht mehr gegen die Trauer an, die mich plötzlich schlagartig überwältigte. Stumme Tränen kullerten über meine Wangen und ich erlaubte mir zum ersten Mal, das Baby in meinem Arm ernsthaft anzusehen. Sie schlief, aber wenn sie die Augen öffnete, schien ich in Gérmans Augen zu sehen.

Der Professor reichte mir ein Taschentuch und rückte seine Brille zurecht. ,,Ich werde dich nicht aufgeben, Alicia."

,,Das habe ich nicht verdient."

Wir wussten beide, dass es stimmte. Sergio widersprach mir nicht. ,,Vielleicht nicht, aber ich werde dich trotzdem nicht fallen lassen."

,,Weißt du, wieso ich so besessen von dir war? Ich dachte, dass mich die Trauer nicht einholt, wenn ich davor weglaufe. Wenn ich nur nicht stehenbleibe, kann ich dir die Schuld an allem geben. Verbrecher fängt man bekanntlich, in dem man rennt."

,,Ich bewundere dich. Du bist die einzige, die ich nicht schlagen konnte. Die einzige, die mein Versteck finden konnte." Sergio stellte seinen Teller beiseite und legte seine Füße auf dem Tisch ab. Dort, wo ich auf seinen Fuß geschossen hatte, klafft ein Loch im Leder.

,,Und du bist der erste Gegner, bei dem ich mich ernsthaft anstrengen musste, zu siegen", entgegnete ich. ,,Wie geht es dem Fuß?"

,,Das wird schon wieder."

Der Professor räusperte sich unbehaglich, was mich wieder daran erinnerte, dass wir beide nicht fähig waren, Smalltalk zu führen.

Ich bot ihm meine Hand an. ,,Also stehen wir auf derselben Seite? Wie... Partner?" Es war seltsam diesen Pakt zu schließen, aber ich brauchte ihn, wenn Victoria jemals ein friedliches Leben haben sollte. Das war das mindeste, was ich meiner Tochter schuldete. Was ich Gérman schuldete. Der Gedanke an meinen verstorbenen Mann trieb mir beinahe wieder Tränen in die Augen. Bilder, die ich lange Zeit verdrängt hatte, erschienen in meinen Gedanken. Darunter Gérman auf dem Sofa, der nach der Fernbedienung fragte. Ich hatte geflucht, weil ich das dumme Ding nirgendwo finden konnte. Als ich Gérman die Fernbedienung dann geben wollte, antwortete er nicht mehr. Ich dachte, dass er schlief und deckte ihn zu. Dabei fiel mir auf, dass seine Brust sich nicht hob und wieder senkte. Ich hatte ihn angefleht wieder aufzuwachen, aber das war nie passiert. Er war gestorben und die letzten Worte, die er von mir hörte waren irgendwelche dummen Flüche wegen der Fernbedienung gewesen.

,,Partner", stimmte der Professor zu. ,,Bitte schieß nicht mehr auf mich. Und sag Raquel nicht, dass du mich ausgeknockt hast."

Ich musste gegen meinen Willen lachen. ,,Soll ich ihr stattdessem sagen, dass deine Hand sozusagen in mir war? Du hast Körperstellen von mir gesehen, die ich dir ganz bestimmt nicht zeigen wollte"
Sergios Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen, bis er realisierte, dass ich von Victorias Geburt sprach. Zu meiner Verteidigung: Humor und Sarkasmus war meine Art und Weise, mit diesem merkwürdigen Erlebnis umzugehen. ,,Gérman hat damals noch einen Witz gemacht, kurz nachdem er mir von seiner Krankheit erzählt hat. Ich habe ihn versprechen lassen, dass er bei der Geburt dabei sein wird. Weißt du, was er gesagt hat? Welcher Mann sollte sonst deine Hand halten? Tamayo? Der Professor?", wiederholte ich Gérmans scherzhaft gemeinte Worte. Dass all das zur Realität wurde, war verrückt.

Der Professor ließ zu, dass ich meinen Kopf auf seine Schulter legte. Weitere Tränen kullerten über meine Wange. Ich war es leid zu weinen.

,,Ich habe Tokyo auch geliebt. Du hattest mir vorgeworfen, dass mir das Schicksal meiner Leute egal ist, aber das stimmt nicht. Ich wollte nichts fühlen, aber sie war mehr als eine Soldatin. Sie war meine Freundin."

,,Scheint, als wären wir ähnlicher als gedacht. Vermutlich haben wir uns deshalb gehasst."

,,Ja, vermutlich."

Anschließend schwiegen wir, aber anders als die anderen Male war es keine unangenehme Stille. Ich hing meinen Gedanken nach und er seinen. Wir saßen im selben Boot.

Wenn der Professor mir verzeihen konnte, vielleicht würde Maddie dasselbe tun. Ich habe ihre Freundin angeschossen, indem ich Axel vor die Bank geschleift habe. Maddie wird mir nie verzeihen.

Vielleicht gab es keine Hoffnung mehr, aber jetzt wo wir im selben Team spielten... Ein Versuch war es wert.

Ein paar Stunden später beruhigte sich die Lage draußen. Der Professor schaffte es, Benjamin zu kontaktieren und weihte mich in den Plan ein. Ich hielt Victoria an meine Brust gedrückt, während wir das Treppenhaus runterschlichen und in der Eingangshalle flüsternd kommunizierten, wie zur Hölle wir das schaffen sollten.

,,Wir klettern in die Mülltonnen", sagte der Professor leise. ,,Benjamin wird mit einem Müllauto ankommen und uns einsammeln."

,,Habe ich schonmal erwähnt, dass ich jedes Wort hasse, was aus deinem Mund kommt - einschließlich dieser furchtbaren Idee?", fragte ich.

Der Professor öffnete eine der Tonnen. ,,Rein mit dir."

•••

Benjamin staunte nicht schlecht, dass ich freiwillig mit dem Professor unterwegs war. Zwar wurde ich von einigen Mitgliedern des Rettungsteams misstrauisch beäugt, aber das kümmerte mich nicht im geringsten. Die treuen Minions würden bestimmt nicht das Wort gegen den Professor erheben, um seine Entscheidungen infrage zu stellen. Das waren die typischen Mitläufer.

Das Müllauto schaffte es problemlos durch alle Polizeiabsperrungen. Wir stiegen in Autos um und fuhren zum Regenüberlaufbecken zurück. Auf der Fahrt verspürte ich ein warmes Kribbeln. Victoria lag in meinen Armen und ich wusste, dass ich sie abgöttisch liebte. So musste sich innerer Frieden anfühlen.

Die Fahrt verging viel zu schnell. Wir betraten das Regenüberlaufbecken, wo die Arbeiten in vollem Gange waren. Überall glitzerte und leuchtete es. Karren mit Goldbarren wurden von A nach B geschoben. Die Arbeiter tauschten sich schreiend untereinander aus. Das beeindruckendste waren aber die feinen Goldkügelchen, die wie Regen von der Decke fielen. Ich legte den Kopf in den Nacken und lachte.

Diese Volltrottel hatten es tatsächlich geschafft.















Criminal Passion [2] ˡᵃ ᶜᵃˢᵃ ᵈᵉ ᵖᵃᵖᵉˡ ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt