22 | Schuldgefühle

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Ich fand ein Schlachtfeld vor. Zersprungene Fensterscheiben, Staub, Trümmerteile von Wänden, sowie zahlreiche Einschusslöcher auf dem Fußboden. Von Gandia fehlte jede Spur.

,,Sydney?", hustend setzte Rio sich auf.
Sein rußverschmiertes Gesicht versetzte seinem Aussehen etwas kriegerisch. Getrübt wurde dieser Eindruck von der Benommenheit, die sich in seinen Augen abzeichnete.

Sofort ließ ich alle Vorsicht außer Acht und rannte zu ihm. Er lehnte sitzend an der Wand neben dem Aufzug, Denver daneben. ,,Scheiße, was ist mit euch passiert? Seid ihr verletzt?", entfuhr es mir.

,,Dieser Mistkerl hat eine Granate in den Aufzug geworfen." Freudlos lachte Denver. ,,Aber haben wir gut hinbekommen, oder Kumpel?"

,,Wir atmen noch", bestätigte Rio und klopfte sich den Staub von den Klamotten. ,,Wie geht es Nairobi?"

,,Besser. Sie hat mir praktisch gezwungen, euch zu helfen. Ich bin anscheinend trotzdem zu spät gekommen."

,,Nein, du kommst genau richtig. Wir müssen Stockholm und die anderen finden. Sie sind Gandia gefolgt." Entschlossen stand Denver auf. Seine
M16 lag noch im Aufzug.

Rio ergriff meine Hand und ließ sich beim Aufstehen helfen. Stürmisch fiel ich ihm in die Arme. Nach all den schlimmen Ereignissen war ich froh, dass Denver und er den Granatenvorfall weitgehend unbeschadet überstanden. ,,Wo ist dieser Mistkerl hin?"

Denver fuhr sich durch die verstaubten Haare. ,,Keine Ahnung. Palermo hat ihn freigelassen. Tokyo muss ihn sehr verärgert haben, als sie Anführerin gespielt hat."

Im Laufschritt setzten wir uns in Bewegung und suchten systematisch die Räume ab. Palermos Verrat erschütterte mich. Wo kamen wir hin, wenn wir uns gegeneinander wendeten? Ohne unseren Zusammenhalt war der Überfall zum Scheitern verurteilt.

,,Es ist meine Schuld. Ich hätte auf ihn schießen sollen, aber... ich konnte einfach nicht." Kraftlos blieb Rio stehen und sah uns mit geröteten Augen an. ,,Jetzt ist er auf freiem Fuß und könnte in jedem Winkel lauern, um uns nacheinander zu erledigen."

Rios Schuldgefühle nahm ich mit einem kleinen Stich im Herzen zur Kenntnis. Unseren Jüngsten derart verzweifelt und den Tränen nahe zu sehen, war schrecklich. ,,Hey, das wirst du nie wieder denken, verstanden? Wir haben alle Fehler gemacht."

,,Ein Mörder ist unterwegs, weil Rio ein Trauma hat. Aber sonst ist ja nichts passiert", schloss Denver nicht sehr einfühlsam. ,,Entschuldige, es... Es war nicht leicht für dich. Das verstehe ich."

,,Ich will mir gar nicht ausmalen, was Mamá dir angetan hat. Es ist völlig in Ordnung, dass du gezögert hast. Du bist nur ein Mensch und Menschen machen Fehler. An Gandias Flucht ist nur Palermo Schuld, nicht du, okay?"

,,Ich habe sie gefragt... Alicia. Ich habe gefragt, ob sie wirklich denkt, dass ich den Aufenthaltsort des Professors kenne", sagte Rio plötzlich und mied sowohl meinen, als auch Denvers Blickkontalt. ,,Wisst ihr, was sie geantwortet hat."

Wir schwiegen.

,,Nein. Das war alles. Die ganze Antwort. Ein einfaches Nein. Und trotzdem hat sie zwei Tage später den Algeriern einen Koffer mit Geld in die Hände gedrückt und zugesehen, wie sie mich lebendig begraben haben."

Fassungslos klappte mir die Kinnlade runter. Meine Mutter würde niemals jemanden... Sie hat es getan. Genauso wie sie ihn gefoltert hat. Ich verlor jeden Respekt, den ich empfand, als sie sich vor mich stellte und mir half, wieder zurück in die Bank zu gehen. Denver sah aus, als habe Rio ihm ins Gesicht geschlagen. Schuldgefühle wegen seiner harschen Worte geisterten in seinem Kopf, was ihm anzusehen war.

Criminal Passion [2] ˡᵃ ᶜᵃˢᵃ ᵈᵉ ᵖᵃᵖᵉˡ ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt