Der Dieb im Obstgarten

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Die Sonne ging auf und scheuchte die Nacht langsam davon, die sich immer weiter in den Osten zurückzog, um dem blassen Lila, das sich langsam in Purpur verwandelte, Platz zu machen. Der Horizont färbte sich immer heller und es sah fast so aus, als sei der Saum des dunklen Kleides, das die Nacht trug ein wenig ausgewaschen. Sonnenstrahlen, kraftlos und zu schwach, um genug Wärme spenden zu können, schoben sich über die Hügel in der Ferne und blitzten über die Wiesen voller Nebel und den großen, dunklen Wald, der bis an den Fuß des Berges reichte, auf dem eine Burg errichtet worden war.

Der Wald hatte keinen Namen und wenn er doch mal einen gehabt hatte, so war er in den vergangenen Jahrhunderten in Vergessenheit geraten.

Unendlicher Wald, wegloser Wald, Wald des Unheils, Wald des Grauens.

Jeder Mensch gab diesem Wald seinen ganz eigenen, ganz persönlichen Namen. Je nachdem, was man selbst im Dickicht und zwischen den Blättern der Bäume erlebt hatte.

In diesem Wald, der so viele Namen trug, war schon vieles geschehen und manche Geschichten erzählten sich die Menschen im Dorf und auf den umliegenden Höfen noch immer gerne, wenn man lange Abende gemeinsam an den offenen Kaminen saß.

Die Alten pflegten die Geschichten an die Jungen weiterzugeben, in der Hoffnung, sie mögen sie unterhaltsam finden. So viele Geschichten sich auch um diesen Wald rankten, es gab nur eine Geschichten, die sich immer wieder wiederholte und die schon beinahe zu einer Legende geworden war. Niemand konnte mehr sagen, ob alles stimmte, was man einander über die Jahre erzählt hatte, doch war der Grund weshalb diese Geschichte nie in Vergessenheit geriet ein ganz Besonderer: sie gab den Menschen Hoffnung – denn sie handelte von ihrem König.

Allerdings ging es dabei nicht um den König, der seit nunmehr 3 Jahrzehnten auf der Burg saß, die Bauern schröpfte und sich auf ihre Kosten ein gutes Leben machte. Nein, diese Geschichte handelte von König Harold I, der einmal über die Grafschaft geherrscht hatte.

Harold war ein guter König gewesen unter dessen Herrschaft es dem Volk gut gegangen war. Zumindest erzählte das die Ältesten immer wieder. König Harold hatte keinen übermäßigen Reichtum genossen und von den Bauern nur den Zehnten Teil der Ernte als Steuern verlangt. Damals hatten es die einfachen Leute ganz gut durch den Winter geschafft und es hatte kaum Hungersnöte gegeben. Doch Harold fiel einem Komplott zum Opfer, als sein ehemaliger Verbündeter und Herrscher über die Grafschaft Lancashire in einer Nacht überraschend die Burg stürmte und sie mit seinen Soldaten einnahm. Um nicht getötet zu werden, floh König Harold zusammen mit seinem damals 17 jährigen Sohn Edward und dessen Frau Anne.

Begleitet wurden sie von einigen getreuen Männern, sowie dem königlichen Berater, dem Druiden Gwydion.

Seit dieser Nacht hatte Niemand im Land den König je wieder zu Gesicht bekommen und es rankten sich Geschichten über seinen Verbleib, wie Efeu, das um alte Gräber wuchs. Manche sagte, Harold sei tot, andere waren noch immer in dem festen Glauben, dass der König – wenn nun auch schon sehr alt – sich noch immer im Wald verbarg und nur darauf hoffte, zurückkehren zu können.

Dieses Gerücht hielt sich äußerst hartnäckig, da der Wald eine solch enorme Fläche des Landes einnahm, dass noch nie alles von ihm hatte erkundet werden können und da man wusste, dass Gwydion, ein sehr weiser Mann war, der sich früher häufig im Wald aufgehalten hatte, um dort Geister zu beschwören und Kräuter zu sammeln. Aufgrund dessen war es durchaus anzunehmen, dass er für den König und seine Familie ein geeignetes Versteck gefunden hatte.

„Er wird zurückkommen und uns von König Jonathan befreien." pflegte man sich gegenseitig zu versichern, wenn man wieder einmal die hohen Abgaben, welche unter Jonathan den Sechsten Teil des Ertrags ausmachten, zur Burg brachte, um die ohnehin schon vollen Speisekammern des Königs zu füllen.

Der verlorene KönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt