Das Portrait von König Harold

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Das Abendessen dauerte länger, als das normalerweise im Wald der Fall war und Louis kam sich komisch vor, so lange an einem Tisch zu sitzen und so viel Auswahl an Essen vor sich stehen zu haben. Bereits nach einer Schale Eintopf und ein wenig Fleisch war Louis satt. „Möchtest du nicht noch etwas essen?" fragte Eleanor und deutete auf eine Schale Gemüse, die in der Nähe stand, doch er schüttelte den Kopf und lehnte ab.

Nachdem die Bediensteten die Holzschalen und Servierplatten mit den Resten abgetragen hatten, erhoben sich die Damen des Tisches, knicksten vor dem König und zogen sich dann zurück in ihre Gemächer. Der König schien recht müde zu sein und sagte nicht sonderlich viel. Stattdessen wandte sich Prinz Niall an Harry: „Wenn du möchtest, kann ich euch jetzt zu der Galerie führen, wo das Portrait von Prinz Edward hängt." Ob es an dem flackernden Licht der Kerzen lag, oder ob Harry mit einem Mal nervös wurde, aber sein Gesicht schien mit einem Mal eingefallen und steinern zu sein. Harry schluckte und nickte dann. „Komm bitte mit, ja? Ich will das nicht alleine machen." sagte Harry und sah Louis bittend an, der sofort nickte und sich ebenfalls erhob.

Niall und sein Vater verabschiedeten sich, wünschten einander eine Gute Nacht, dann verließ der Prinz gemeinsam mit Harry und Louis den Speisesaal.

Sie durchquerten den Thronsaal und traten wieder hinaus auf den Flur. Prinz Niall trug eine Kerze bei sich und führte sie einen weiteren Gang entlang. Als sie um eine Ecke bogen, konnte Louis Harry zitternd atmen hören. Vor ihnen öffnete sich ein langer Korridor, dessen Wände mit unzähligen Rahmen behangen waren, die die Abbilder ehemaliger Herrscher und Königen beheimateten. Andächtig blieben sie stehen und sahen sich die vielen glänzenden Holzrahmen an. Harry festigte seinen Griff um Louis Hand und das nervöse Zittern, das ihn erbeben ließ, spürte auch Louis. Er fühlte mit Harry mit: vielleicht waren das hier die letzten Momente, in denen Harry ein normaler junger Mann war. Sollte das Abbild seines verstorbenen Vaters tatsächlich in diesem Korridor auf ihn warten, dann würde nichts mehr so sein, wie bisher. „Wollen wir weiter?" fragte Prinz Niall und setzte sich in Bewegung. Harry warf Louis einen unsicheren Blick zu – seine Lippen waren blass und trocken und in seinen Augen stand die pure Angst. „Ich bin bei dir. Du bist nicht allein, Harry." flüsterte Louis aufmunternd und klang dabei überraschend ruhig, obwohl sein Herz mindestens genauso nervös flatterte, wie das Harrys. Doch es half nichts, wenn sie den Moment hinauszögerten und die ganze Nacht hier herumstanden. Sie mussten es jetzt einfach hinter sich bringen.

„Hier ist es." sagte Prinz Niall, der ein wenig vor gegangen und am Ende des Korridors vor einem Bild stehen geblieben war. Sie gingen auf den Schein seiner Kerze zu und es fühlte sich an, als würde der Weg immer länger werden. Louis hatte den Eindruck, sie würden niemals bei dem Prinzen ankommen. Harry schien genau das Gegenteil zu empfinden, denn als sie bei dem Prinzen ankamen, seufzte er: „Das war ein verdammt kurzer Weg..." Der blonde Prinz strahlte sie an und hielt dann die Kerze so, dass der Lichtschein auf die Leinwand fiel, die neben ihnen an der Wand hing:

Das Bild war nicht sonderlich groß, trotzdem war der Mann darauf komplett abgebildet. Er war groß und schlang, saß auf einem einfachen Holzstuhl. Sein Wams war dunkelrot und golden und er trug eine Krone auf den dunkelbraunen Haaren. Es war gewellt und reichte ihm bis zur Schulter hinunter. Seine Wangenknochen waren markant, die Lippen weich und geschwungen und die Augen von einem strahlenden Grün. Ungläubig sah Louis zwischen dem Portrait und Harry hin und her. Würde er es nicht besser wissen, hätte er behauptet, es sei Harry, dessen Portrait er gerade betrachtete. „Sieht er aus wie ich?" fragte Harry und wandte sich an Louis, der ausdruckslos nickte. Natürlich stellte Harry ihm diese Frage. Er hatte sein Spiegelbild bisher nur in Wasseroberflächen gesehen und wusste daher nicht, wie er wirklich aussah. „Du siehst genauso aus, wie er Harry." hauchte Louis und fühlte ein Gefühl der Leere in sich: er hatte mit diesen Worten dem jungen Mann gerade versichert, dass er vor dem Portrait seines Vaters stand, dass er Thronerbe und rechtmäßiger König war, dass er Verantwortung zu tragen hatte und dass sein Leben vielleicht bald beendet wäre, sollte er einen Kampf gegen Jonathan nicht überstehen. Harry schluckte und wandte seinen Blick von Louis ab, um das Portrait wieder anzublicken. Seine Augen huschten über die Leinwand und er kniff die Lippen zusammen, als Louis Worte langsam in seinem Bewusstsein ankamen. „Ich hatte Recht, nicht wahr? Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten." sagte der Prinz, den Louis beinahe vergessen hatte. „Ja...so scheint es..." hauchte Harry. Mit einem Finger strich er über das Gesicht des Mannes, der sein Vater gewesen war und blinzelte hastig, doch Louis konnte die Tränen sehen, die zwischen seinen Wimpern hervortraten und über seine Wange liefen. „Vater..." hauchte der Lockenkopf, dann schlug er eine Hand vors Gesicht und verbarg seine Tränen vor Louis und dem Prinzen, die sich mitfühlende Blicke zuwarfen. „Ich bringe euch in eure Kammer. Ich denke, er braucht jetzt erst einmal Ruhe, um das zu begreifen." sagte der Prinz leise zu Louis. Sie nahmen Harry in ihre Mitte und führten ihn durch die langen Flure zurück bis zu der Schlafkammer, die man ihnen zugeteilt hatte.

Der verlorene KönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt