Tatsächlich wurde es in dem Loch, in das man Louis geworfen hatte, ein wenig heller, als die Sonne endlich aufgegangen war und so konnte Louis seinen Mitgefangenen erkennen, der neben ihm an die Steinmauer angelehnt saß: sein Haar war kurz geschoren und dunkel. Er trug einen Bart und seine Augen waren mit Sicherheit einmal wachsam und offen gewesen, doch jetzt war darin Angst zu lesen. „Willst du mir die Geschichte erzählen, für die du...hier eingesperrt wurdest?" fragte Louis zaghaft, er wusste nicht, ob Liam sich noch zutraute, die Geschichte ein weiteres Mal zu erzählen. Vielleicht wurden sie belauscht und seine Strafe würde noch härter ausfallen, als sowieso schon. „Wenn du sie hören willst, tue ich das gerne. Nochmal kann man mich ja nicht einsperren." sagte Liam, sah zu dem Loch an der Decke hinauf und senkte die Stimme: „Ich werde es dir aber flüsternd erzählen, sollte da oben ein Wachposten stehen. Ich will nicht noch schlimmer gefoltert werden, wenn herauskommt, dass ich sogar noch im Fallturm die Geschichte verbreitet habe." Liam rutschte ein wenig näher an Louis heran, beugte sich vor und begann zu erzählen.
„Ich komme nicht von hier, wie du sicherlich schon an der Art, wie ich spreche, gehört hast. Als Handwerker ziehe ich auf der Suche nach Arbeit von Siedlung zu Siedlung. Hier im Dorf habe ich auf der anderen Seite des Flusses Rast gemacht und traf dort auf eine alte Frau. Ich erzählte ihr, dass ich auf dem Weg in den Wald sei und sie warnte mich davor, den Weg im Wald zu verlassen, wenn ich weiterreiste. Natürlich war ich neugierig und wollte gerne wissen, wieso sie mir diesen Rat so nahe legte. Zuerst wollte sie es mir nicht sagen, doch dann erzählte sie mir, wie eure König von dem jetzigen Herrscher verdrängt wurde. Sie sagte, im Wald würden Banden lauern, die Reisende überfielen. Sicherlich ist dir diese Geschichte bekannt, wenn du von hier kommst." Louis nickte: er war hier aufgewachsen und natürlich war ihm die Legende von König Harold und seinem Sohn, die angeblich im Wald darauf lauerten, wieder zurückzukehren, nicht fremd. Doch da Louis wusste, dass sich die Menschen diese Geschichte noch immer gegenseitig erzählten, fragte er sich, weshalb man nun Liam dafür eingesperrt hatte. „Vor einigen Tagen also, wollte ich weiterreisen, packte mein Bündel zusammen und betrat den Wald. Der Pfad wand sich immer mehr ins Unterholz und bald war alles um mich herum so zugewachsen, dass ich ihn kaum noch sehen konnte. Mir schien fast so, als wolle der Wald selbst mich in die Irre führen. Die Bäume um mich herum wurden immer dichter und älter und bald drang kaum noch Tageslicht durch das Blätterdach bis zu mir hinunter. Ich habe mich gefürchtet, denn es war richtig unheimlich. Wie lange ich gegangen war, konnte ich nicht mehr sagen, doch ich sah irgendwann eine Eiche aus der Dunkelheit auftauchen. Noch nie im Leben hatte ich einen so großen Baum gesehen, er schien älter zu sein, als die Menschheit, so groß und knorrig war er. Manche Äste waren so schwer, dass sie bis auf den Boden hinunter hingen und dort festgewachsen waren. Doch was mich besonders erschreckte, mal abgesehen von der enormen Größe des Baumes, war, dass darin ein Feuer zu brennen schien. Ich schlich mich näher heran, denn natürlich war ich auch neugierig geworden. Auf Händen und Knien kroch ich näher an den alten Baum heran, als ich in der Rinde eines Astes die Buchstaben KH eingeritzt sah. Ich kann mich natürlich irren, doch, es könnte König Harold bedeuten. Es waren keine frischen Schnitte. Moos hatte sich über lange Zeit darin festgesetzt und es war kaum zu lesen. Doch ich kratzte es ab und erkannte die Buchstaben klar und deutlich." - „Aber, was hat das im Wald..." fing Louis an, der Liam neugierig gelauscht hatte. Liam lächelte vielsagend und fuhr fort: „Ich denke, dass sich der König hier im Wald bei der alten Eiche versteckt hält, oder dass er zumindest dort gewesen sein muss. Weil die alte Dame so verzweifelt geklungen hatte, als sie mir von der Geschichte erzählte, beschloss ich, nochmal zu ihr zurückzukehren. Ich wollte ihr sagen, was ich im Wald gesehen hatte, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben durfte." Liam seufzte und schloss die Augen für einen Moment, dann sprach er weiter: „Der Sheriff kam bei der Frau vorbei, als ich ihr gerade von meiner Beobachtung berichtete. Er verhaftete mich sofort, weil ich angeblich Lügen über König Jonathan verbreitete. Er brachte mich geradewegs hierher und man warf mir vor, Intrigen gegen den König zu planen. Dabei wollte ich ihr doch nur sagen, dass sie die Hoffnung nicht aufgeben darf, denn ich bin mit mittlerweile sehr sicher, dass in dieser alten Eiche Jemand sein Lager aufgeschlagen hat. Und wenn es nicht der König, sein Ratgeber, oder der Kronprinz waren, dann zumindest jemand, der Harold I treu ergeben ist. Und nun sitze ich hier in diesem elenden Loch und warte darauf, dass man mir körperliche Schmerzen zufügt, weil ich es gewagt habe, etwas zu erzählen, das dem König nicht passt." Liam lehnte sich wieder zurück an die Mauer und schloss noch einmal die Augen. „Weißt du, obwohl ich nicht weiß, ob diese Geschichte Wahrheit oder Legende ist, so wünsche ich mir doch, dass es in diesem Wald Jemanden gibt, der den Thron im Blick hat und nur darauf wartet, diesen Tyrannen zu stürzen."
![](https://img.wattpad.com/cover/329169060-288-k439773.jpg)
DU LIEST GERADE
Der verlorene König
FanfictionEin weitläufiger Wald, ein gestohlener Thron, ein geflohener König und eine geflüsterte Hoffnung. Eine Hoffnung, die das gebeutelte Volk am Leben hält. Was ist dran an den Gerüchten, der verlorene König könnte sich im Wald aufhalten? Louis, gefol...