Die vorerst letzte Nacht mit Harry

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Die Sonne war untergegangen und der Wald lag still und ruhig da, als Louis durch den Spalt hinaus ins Freie trat. Über sich konnte er die gedämpften Stimmen der anderen hören, die auf ihren Plattformen saßen und sich leise miteinander unterhielten. Ob Harry schon dort oben saß? Er legte den Kopf in den Nacken und sah den Baum hinauf, doch die Plattformen waren so gut getarnt, dass sie von unten nicht zu erkennen waren. Er würde also hinaufklettern müssen, wenn er wissen wollte, ob Harry dort oben war. Er hätte zwar auch die Umgebung nach Harry und Zayn absuchen können, allerdings war er sich sicher, dass er unerwünscht war, sollten sie noch damit beschäftigt sein, ihren Streit beizulegen. Also band Louis sich das Oberhemd um die Taille, warf sich den Umhang über die unverletzte Schulter und kletterte vorsichtig den Baum hinauf, bis er Harrys Plattform erreicht hatte. Als er sich über den Rand zog, musste er feststellen, dass der Lockenkopf noch nicht da war. Mit Sicherheit hatte er mit Zayn einiges zu klären. Er breitete Harrys Decke auf dem Holz aus, legte sich bäuchlings darauf, damit der Stoff nicht an der dunklen Salbe kleben blieb und blickte über den Rand hinunter in die Äste der Eiche. Es war schon erstaunlich, wie alt dieser Baum war. Was er wohl schon alles erlebt hatte? Manchmal wünschte sich Louis, die Bäume könnten sprechen und würden ihm all die wunderlichen Geschichten erzählen, die sich an ihren Stämmen zugetragen hatten. Vielleicht wusste dieser Baum ja sogar, wo sich der Thronerbe aufhielt und wenn sie dieselbe Sprache sprächen, müsste Harry ihn nur fragen, anstatt mühsam das ganze Land zu durchkämmen. Wenn er ihn doch nur begleiten könnte. Die Vorstellung, dass Harry allein diese ganzen weiten Strecken hinter sich brachte und ständig Gefahr lief, festgenommen oder überfallen zu werden, verursachte ein schlechtes Gefühl bei Louis. Dem Lockenkopf musste wirklich sehr viel daran liegen, den Prinzen zu finden, sonst würde er sich nicht in solch eine Gefahr begeben.

Heute Nacht war der Mond voll und rund und erhellte den Wald in einem Licht, dass man überraschend gut sehen konnte. Wenn er sich anstrengte, konnte Louis fast den Waldboden erkennen, obwohl so viele Äste ihm die Sicht versperrten. Seine Hand sah blass aus, als er sie vor die Augen hob und sie im Mondlicht musterte. Ob diese Hände jemals lernen würden, mit Pfeil und Bogen oder einem Schwert umzugehen? Harry und die anderen Jungs beherrschten ihre Waffen nahezu perfekt und er? Er konnte eigentlich gar nichts. Ein wenig amüsiert musste er daran denken, wie kläglich sein Pfeil im Unterholz gelandet war. Ob Harry ihn wirklich mitnehmen würde, wenn er die Waffen beherrschte? Vorhin hatte das zumindest so geklungen. Louis nahm sich vor, sich schon morgen zeigen zu lassen, wie man die Waffen richtig führte, damit er Harry so bald wie möglich begleiten konnte.

Die Blätter unter der Plattform raschelten und etwas dunkles und großes bewegte sich am Stamm hinauf. Zuerst erschrak Louis, dann erkannte er einen Langbogen und war sich sicher, dass es Harry war, der da zu ihm hinaufgeklettert kam. Tatsächlich erkannte er die Locken im Mondlicht und als Harry den Kopf hob und zu ihm hinaufsah, trafen sich ihre Blicke und er grinste. „Bist du schon lange hier oben?" fragte er, zog sich über den Rand und setzte sich neben Louis. „Hier, ich habe dir noch etwas zu essen mitgebracht." sagte er leise und hielt Louis eine handvoll Beeren hin, die er sicherlich gesammelt hatte. „Danke, ich habe noch nichts gegessen." sagte Louis und nahm die Beeren entgegen. Harry sah ihm beim Essen zu und sagte irgendwann: „Ich habe mich mit Zayn wieder vertragen. Ich kann es nicht ertragen, wenn wir uns streiten. Er ist wie ein Bruder für mich und ich will mich nicht mit ihm überwerfen. Vorher hätte ich nicht abreisen können." - „Das heißt, du willst morgen schon wieder los?" Louis konnte nicht verhindern, dass er ein wenig verängstigt klang. „Ja. Ich will nicht, aber ich muss. Ich komme auch wieder, du musst dir keine Gedanken machen. Niemand ist auf der Suche nach mir, ich kann mich frei in der Grafschaft bewegen, im Gegensatz zu manch anderen von uns." Harry streckte eine Hand aus und strich Louis durch die braunen Haare. Noch immer lag er neben ihm auf der Plattform. „Wenn du gut im Kampf bist, wenn ich wiederkomme, dann nehme ich dich bei der nächsten Suche gerne mit." - „Musst du wirklich morgen schon wieder gehen?" fragte Louis, stützte sich auf die Ellbogen und sah zu Harry auf der im Mondlicht zu ihm hinunter schaute. „Ja ich muss. Aber heute Nacht bin ich ja noch da. Komm her." Schnell richtete Louis sich auf und ließ sich von Harry in die Arme ziehen. „Ich kann verstehen, dass du mich gerne begleiten willst, aber ich kann gut auf mich selbst aufpassen, weißt du? Und wenn du dabei wärst, dann wäre ich in größerer Sorge um dich, als um mich selbst." Harry lehnte seine Stirn an die von Louis, strich ihm durchs Haar und über den Rücken, während er beruhigend vor und zurück wippte. „Ich werde leichter gehen können, wenn ich dich erst einmal in Sicherheit weiß, Louis. Du bist nicht ganz gesund und es ist viel wichtiger, dass deine ganzen Verletzung erst in Ruhe abheilen, bevor wir gemeinsam losziehen." Harry sprach ganz ruhig und mit einem Mal spürte Louis die große Hand, die gerade noch über seinen Rücken gestrichen war, in seinem Nacken. „Ich komme zurück, das verspreche ich dir." Louis konnte nicht genau sagen, wieso, doch Harrys Aussage und dass er sie ständig wiederholte, beunruhigte Louis. Es wäre ihm lieber gewesen, Harry hätte ihm seine Rückkehr nicht versprochen. Denn so schien es immer unwahrscheinlicher zu werden, dass er zurückkam, obwohl er doch bisher von seinen Reisen immer zurückgekehrt war.

Der verlorene KönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt