Wir setzten den Plan in die Tat um und kamen fast pünktlich an der einzigen Haltestelle in Ecklingen an. Jacey hatte wieder ihren braunen Mantel an und schaute sich um, bis sie uns entdeckte.
»Hallo Jacey!«, rief ich.
Wir begrüßten uns alle und dann liefen wir los.
»Wann bist du von hier weggezogen?«, fragte Maike neugierig.
»Ach, das ist schon lange her. Ich habe woanders studiert, doch in den Ferien und an Feiertagen kehrte ich immer nach Hause zurück. Bis ich meine feste Arbeit und eine Wohnung fand, lebte ich auch noch dort. Doch nach ein paar Jahren zogen meine Eltern um. Und so sah ich dieses Dörflein nie wieder.«
»Was verbindest du damit?«
»Meine ganze Kindheit! Freude, Glück. Hier fand ich meine erste und einzig wahre Liebe.«
»Wie hieß -«, begann ich, doch Jacey unterbrach mich.
»Ach, in dieser Straße habe ich zum ersten Mal Fußball gespielt als kleines Mädchen. Und dort hinten wohnte der Pfarrer aus dem Nachbarort.«
Jacey deutete in eine Richtung. Maike und ich nickten artig. Wir bogen in eine Seitenstraße ab. Jacey blieb stehen und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Sie konzentrierte sich für ein paar Minuten nur auf ihre Atmung und erklärte uns dabei, dass sie auf ihre Gesundheit achten müsste. Als wir weitergingen, umgriff sie Maikes Arm wie ein Schraubstock.
»Da vorne ist es schon«, sagte sie. »Ich rieche es noch. Wenn bei den Nachbarn gegrillt wurde und diese Sommerluft. Ich höre noch das Kinderlachen in meinen Ohren.«
Selig lächelte Jacey vor sich hin und achtete dabei kaum auf den Weg, weshalb ich sie von der anderen Seite stützte. Wir stoppten vor dem Haus und Jacey erzählte uns von ihrer Kindheit und von Gefühlen, die sie mit dem Haus verband. Sie schüttete uns ihr Herz aus und Maike und ich hörten zu.
»Zu gern würde ich wissen, wer jetzt hier wohnt.«
»Das können wir ganz einfach herausfinden«, sagte Maike. »Wir klingeln einfach.«
Maike marschierte auf das Grundstück und klingelte an der Tür. Jacey und ich warteten. Eine Frau öffnete. Sie war sehr groß und hatte langes dunkles Haar. Hinter ihr stapelten sich Kartons.
Als Maike kurz darauf wieder zu uns stieß, berichtete sie uns von der Unterhaltung. »Die Frau hat gesagt, dass sie mit ihrer Familie hier wohnt, aber Anfang des neues Jahres, also in ein paar Wochen, wegziehen wird und danach steht das Haus erst einmal frei.«
»Ach nein. Wirklich?«
»Ja.«
»Das ist wunderbar! Dann kann ich dort wieder einziehen und hier leben, wie ich als Kind hier gelebt habe bis zu meinem Lebensabend.«
»Das wäre cool.«
Wir schlenderten die Straße entlang und zogen dann weiter durch das Dorf.
»Jacey, darf ich dich mal etwas fragen?« Nervös strich ich meine bunten Haare aus dem Gesicht und wartete auf ihre Antwort.
»Ja, Junge? Was ist denn?« Manchmal, wenn mich jemand mit Junge anredete, musste ich lächeln, da es mich daran erinnerte, was ich geschafft hatte. Ich war kein Mädchen mehr, sondern ein Junge. Und Fremde nahmen das so wahr. Sie hinterfragten nicht mal mehr, dass ich ein Junge war.
»Kennst du eine Maria?«
»Ich kannte eine Maria. Das ist aber schon lange her. Warum fragst du?«
»Das ähm, mochtest du Maria?«, lenkte ich ab.
»Ja, ja. Maria war ein sehr liebes Mädchen. Ich hatte sie sehr gern. Eines Sommers verbrachten wir die Tage zusammen, jede Minute fast. Wir sahen so viele Sonnenuntergänge und verliebten uns. Doch sie entschied sich nicht für mich. Sie wählte einen anderen. Ich trauerte und schrieb ihr Briefe, kam nie über den Verlust hinweg, doch sie schrieb nicht zurück. Ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt. Irgendwo in der Gegend lebt sie noch, oder lebte.«
»Wärst du gern mit ihr zusammen?«
»Ich würde sie auf der Stelle heiraten! Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben. Ich habe keine Kinder und keine Enkel, keinen Mann und keine Frau. Wenn ich morgens aufwache, denke ich immer noch an sie. Oh, wie muss sie sich verändert haben!«
Maike und ich warfen uns einen Blick zu.
»Findet ihr es etwa komisch, dass ich als Frau eine Frau liebe?«, fragte sie misstrauisch. Sie hatte wohl unseren wortlosen Austausch bemerkt.
»Nein, nein!«, rief ich.
»Wenn ihr euch fragt, ich unterstütze gleichgeschlechtliche Liebe und Ehe, auch wenn es zu meiner Zeit nicht gern gesehen war. Nun, wer sich gernhat, der soll halt miteinander, nicht wahr?« Der letzte Satz klang, als hätte sie den schon oft gesagt.
»Da hast du recht. Mein Bruder liebt auch einen Jungen«, sagte Maike.
»Ja, so ist es auch nicht verkehrt. Und bald soll ja diese eine Hochzeit stattfinden. Leider weiß ich immer noch nicht, wann genau und wo.«
Jacey holte die geknickte Karte von letztens hervor. »Hier steht es schwarz auf weiß. Antonia und Michaela heiraten nächstes Jahr. Ich werde ihnen sagen, dass ich das großartig finde und sie nicht den Fehler machen sollen wie Maria. Sie sollen zu ihrer Liebe stehen.«
»Darf ich mal?« Ohne auf die Antwort zu warten, riss Maike ihr den Zettel aus der Hand. »Nein!«
»Was ist denn?«, wollte ich wissen.
Schweigend reichte Maike den Zettel an mich weiter. Ich sah die zwei Namen, den Ort, der unten in der Ecke stand und dass die beiden in drei Jahren heiraten würden. Plötzlich ging mir ein Licht auf. Ich schlug meine Hand gegen meine Stirn. »Nein!«, rief ich.
»Was ist denn los, Kinder? Warum seid ihr so aufgebracht?«
Wir waren beide zu sprachlos, um zu antworten. Erstaunt wechselten wir Blicke. Dann musste ich grinsen.
»Das ist eine witzige Geschichte. Mein bester Freund Michael und sein damaliger Feind Anton mussten ein Projekt für die Schule machen. Sie sollten in Englisch einen Heiratsantrag nachspielen«, erklärte ich.
Maike griff das Wort auf. »Ich als seine Schwester und seine beste Freundin July haben uns einen kleinen Scherz erlaubt und an die Luftballons kleine Kärtchen drangehangen. Und ein halbes Jahr später waren sie wirklich zusammen.«
»Findet denn eine Hochzeit statt?«
»Ja! Sie haben sich erst kürzlich verlobt!«
»Um genau zu sein, das war sogar heute!«
Maike und ich grinsten uns an. Eine plötzliche Freude war über mich gekommen. Immerhin hatte mein bester Freund sich verlobt!
»Dann beglückwünsche ich die beiden natürlich.«
»Wir richten es aus.«
Wir verabschiedeten uns von Jacey und winkten ihr hinterher, als der Bus wegfuhr.
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Falls ihr den 1. Teil gelesen habt, erinnert ihr euch noch an die Szene, als Maike und July Zettel an die Luftballons gesteckt haben?
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𝔻𝔸𝕊 𝕃𝔼𝔹𝔼ℕ 𝕌ℕ𝔻 𝕀ℂℍ
RomantikSeit Levi und seine beste Freundin July sich geküsst haben, spielen seine Gefühle in ihrer Nähe verrückt. Allerdings findet er auch seinen alten Klassenkameraden und Tänzer Dominik attraktiv. Um zu vermeiden, dass sein Herz gebrochen wird, versucht...