Die komplette Nacht hatte ich kaum geschlafen.
Vincent hatte mir noch erzählt, dass er ihr einen Zettel hinterlassen hatte, aber das war meine kleinste Sorge.
Da ich bisher nie mitbekommen hatte, dass sie weggegangen war, malte ich mir die schlimmsten Dinge aus, weshalb sie abwesend sein könnte.
Ungeduldig wartete ich, auf die scheiß Entlassungspapiere, während Vincent selbstverständlich bei mir saß, um mich schnellstens nach Hause fahren zu können.
Mein Fahrrad war ja eh Schrott.
Dass sie kein Handy hatte, fand ich in der Situation noch beschissener. »Du hast wirklich überall geguckt?« , hakte ich abermals bei Vincent nach.
»Du warst doch am Apparat. Ich hab sie gerufen. Sozusagen habe ich anschließend Niemandem laut erklärt, dass ich dein bester Freund bin. Sie war nirgendwo.«
»Aber wo ...?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich versteh das nicht. Wo kann sie denn sein?«
»Vielleicht hat sie ja doch ihren Vater besucht. Du sagtest, er liegt im Sterben.«
Schlüssig hörte es sich an, aber passte nicht zu den anderen Aussagen, die ich ja bisher so mitbekommen hatte. Denn da schien es so, als dürfte sie nicht hin.
Endlich bekam ich die Papiere und ich stopfte die in meine Tasche, um schnell nach dem Rechten sehen zu können.
Vincent feuerte ich regelrecht an, als wäre er Teilnehmer eines illegalen Rennens. »Warte hier.« , sprach ich, als er vor dem Haus mit quietschenden Reifen hielt, denn irgendwie vermutete ich immer noch, das Engel sich nur versteckt hatte, da sie ihn nicht gekannt hatte. Ich öffnete die Türe mit Karacho und rief ihren Namen.
... und ... da war sie.
Sofort fiel sie mir um den Hals. »Geht's dir gut?« , fragte sie.
Ich nickte, obwohl die Umarmung mir totale Schmerzen verursachte, wegen der angeknacksten Rippen.
Mit ihr im Arm ging ich einen Schritt zurück, um Vincent mit dem Daumen in der Höhe zu signalisieren, dass alles okay wäre.
Mit gerunzelter Stirn sah er mich an. Er kurbelte das Fenster runter. »Ist ... alles gut?«
»Jaja.« , antwortete ich. »Ich ruf dich später an.«
»Deine Tasche?!«
»Kannst du mir die morgen bringen?« Ich hatte keine Lust jetzt wieder zurückzuwatscheln.
Er nickte. Sein Blick blieb jedoch verwirrt.
Ich winkte nochmal und schloss die Türe, dann küsste ich meine Freundin.
»Was ist passiert?« , fragte sie. »Auf dem Zettel stand nur, du wärst im Krankenhaus. Ich solle mir keine Sorgen machen.«
»Ich wurde angefahren.« Ich zeigte ihr meinen Arm und den Hinterkopf. »Hab noch'n paar gebrochene Rippen.«
»Oh.« Mitfühlend sah sie mich an und berührte mich ganz sanft an dieser Stelle. »Aber sonst geht es dir gut?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab' mir Sorgen gemacht.« , begann ich. »Wo warst du?«
Nun drehte sie sich weg von mir. »Das kann ich nicht erklären.«
»Dann versuch' es.« Dieses Mal wollte ich nicht lockerlassen.
Engel ging die Stufen hinauf. »Nein.« Für sie war das Thema damit erledigt.
Nicht für mich.
Ich wollte wirklich nicht, dass sie mich so behandelte. Ich war ihr Freund. Sie konnte mir vertrauen. Selbst schlimme Dinge.
Ich folgte ihr ... wie so oft. »Dein Nein zieht nicht mehr.«
Sie drehte sich um. »Wieso nicht?«
»Weil wir ... eine Beziehung führen?« Führten wir eine? Ich war mir gerade nicht so sicher. Gesprochen hatten wir bisher nicht darüber, aber so gehandelt. Für mich war es eine.
Engel legte den Kopf schräg, als sie mich ansah. »Das bedeutet aber nicht, das man sich alles erzählen muss.«
»Ich hab' mir Sorgen gemacht.« , startete ich erneut, um ihr abermals klarzumachen, wie ich mich gefühlt hatte.
»Es tut mir leid. Das wollte ich nicht.« Sie ging in ihr Atelier.
»Du musst mir ja nicht sagen, wo du genau warst, aber ... du verlässt die ganze Zeit dieses Haus nicht. Ich muss dich einsperren damit du nicht rauskommst und dann ...«
»Du siehst das falsch.« , unterbrach sie mich.
»Wie?«
»Du musst abschließen, weil Viktor abschließt. Außer die zwei Male, wo du rüberkamst und wir uns ... kennengelernt haben. Da hat er es ... vergessen.«
»Und warum schließt er dich ein?« Ungewollt wurde ich lauter.
»Er schließt mich nicht ein.« , antwortete sie so, als wäre das eine logische Rückäußerung.
»Häh.« Konfus starrte ich sie an. »Weißt du überhaupt, was du da von dir gibst?«
»Ich habe dir gesagt, du wirst es nicht verstehen.«
»Natürlich verstehe ich das nicht. Das würde niemand kapieren. Weil es null Sinn ergibt.« Wieder wurde ich lauter und hielt mir wegen der Anstrengung die Rippen fest. »Ich schließe dich ein, weil Viktor dich einschließt, aaaaaaber ... der schließt dich nicht ein.«
»So hab ich das gar nicht gesagt.« , sprach sie leise.
»Doch. Das hast du. Genau so.«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Nein.«
Wieder, nur ein Nein.
»Engel, ich will dir nichts Böses. Verstehst du das denn nicht?«
»Ich verstehe dich. Aber du wirst mich nie verstehen.« Sie setzte sich auf das Sofa.
Ich atmete tief ein und platzierte mich neben sie. »Wieso schließt Viktor diese Türe ab?« , versuchte ich es nun auf diese Art und Weise.
»Wieso schließt man eine Haustüre ab?« , kam als Gegenfrage.
»Damit niemand reinkommt.«
Sie nickte. »Genau.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber da du in diesem Haus bist, schließt er dich somit auch ein.«
»Das ist aber nicht sein Vorhaben.«
Meine Stirn blieb zusammengezogen. »Was dann?«
»Damit niemand reinkommt.«
Ich rieb meine Schläfen. Das war der Moment, wo ich merkte, dass Männer und Frauen je eine unterschiedliche Sprache babbelten.
»Es soll niemand rein?« , wiederholte ich fragend.
»Genau.«
»Heißt, keiner darf dich besuchen?«
»Dag, können wir bitte aufhören?«
Ich stand auf und ging ans Fenster. »Nur eine Frage noch.« Sie sah mich an. »Warst du ... in Sicherheit, als Vincent herkam?«
»Was?«
»Ich will wissen, ob dir jemand etwas antut. Mir ... mir fallen keine Theorien mehr ein, aber ... du wirst hier ... festgehalten. Und ... keiner darf zu dir. Und ... urplötzlich bist du weg. Verschwunden. Ich will einfach nur wissen, ob alles in Ordnung ist. Ob ich dir helfen kann.«
Engel sah mich ein wenig länger an ... stand auf und umarmte mich.
Wie bereits gewohnt, legte sie ihren Kopf auf meiner Brust ab und lauschte meinem Herzschlag. »Du kannst mich nicht retten.«
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Du und ich, nur wir beide
FanfictionTriggerwarnung: SVV, Suizid Dag weiß nichts über das Mädchen, welches ihn seit seinem Einzug ständig aus dem Haus gegenüber beobachtet. Engel lebt komplett zurückgezogen und vermeidet jeglichen Kontakt mit anderen. Langsam und behutsam gelingt es i...