ᴷᴬᴾᴵᵀᴱᴸ 34

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Heute war der Tag.

Schon seit den frühen Morgenstunden war ich bei Engel, obwohl sie sich erst nachmittags das Leben genommen hatte.

Irgendwie hatte ich Panik, dass es doch vor diesem Zeitpunkt geschehen konnte und nur der Tag entscheidend war.

Vincent war ebenso anwesend. Einfach um mich danach auffangen zu können.

Engel wollte eigentlich, dass ich mich den Tag davor verabschiede. Sie beabsichtigte nicht, dass ich dabei zusah ... aber ich konnte sie nicht alleine lassen. Ich hatte nicht vor, dass sie das abermals einsam durchmachen musste.

So wie ich nun an ihrer Seite stand, war Vincent halt anwesend, um mich nicht alleine zu lassen.

»Du musst ihn gut festhalten in deinem Leben.« , sagte Engel und blickte zu meinem besten Freund, der momentan an seinem Handy hing und mit Bel-Air schrieb.

Ich sah ebenfalls hin. »Das werde ich definitiv tun.«

Vincent schaute kurz auf. Ihre Worte hatte er nicht verstanden, trotzdem lächelte er mir in dem Moment zu.

Im Verlauf des Lebens war es schon immer so, das Menschen verschwanden, während andere neu erschienen. Währenddessen wirklich gute Freunde jederzeit bei einem blieben. Es war dieser Moment, als ich bereits wusste, dass unsere Freundschaft ewig halten würde. Ich spürte es einfach. Vincent und ich waren nicht gleich, aber dennoch verband uns irgendwas, dass kein anderer sehen konnte.

Er war ein Mensch, mit dem ich etwas teilen konnte. Etwas ganz Besonderes, Tiefes, Authentisches und Persönliches.

Ihn konnte ich mitten in der Nacht anrufen, wenn ich ein großes Problem hatte. Er war meine Familie. Mein Bruder, mit dem ich zwar nicht genetisch, aber über das Herz verbunden war.

Ist einer ständig der Helfer und Mutmacher, fehlt ein wichtiger Teil. Freundschaft ist ein Geben und Nehmen. Selbstverständlich war ich für Vincent genauso da, wie er für mich. Ich half ihm bei seinem Liebeskummer. Munterte ihn auf, als er an sich selbst zweifelte. Auch mich konnte er mitten in der Nacht anrufen, wenn es ihm nicht gut ging, und ich schwang mich direkt auf mein Rad, um zu ihm zu gelangen.

»Falls er es mal nicht schafft, dich an ganz dunklen Tag zu erhellen, denk' bitte immer daran, was du mir versprochen hast.« , sprach sie weiter und nahm meine Hand. »Verlasse diese Welt mit vielen Erinnerungen.«

»Und wenn die Leere doch zu ... viel wird?« , fragte ich sie.

»Manchmal ist die Leere, die du fühlst, nur dein Geist, der dir sagt, dass du Melodien finden sollst, zu denen dein Herz wieder gerne schlägt. Versuche, das zu verinnerlichen.«

Sie hatte Recht damit. Die Musik half mir durch vieles hindurch. Ob ich selbst sang, etwas textete oder einfach nur in Ruhe Gitarre oder Klavier spielte.

Musik belebt. Und sogar wenn es ein tiefgründiger Text ist, entstehen im Innern positive Gefühle.

Musik kann so viel mehr und ich bin umso erfreuter, das Vincent und ich unseren Teil beigetragen haben, damit andere Personen sich mit einer beachtlichen Anzahl von unseren Texten identifizieren konnten. Dass sie ihnen half, wenn man in einem Loch saß und manchmal nicht mehr weiter wusste.

Öfters hatte ich das Gefühl, ich tat es für Menschen, so wie Engel einer war. Jene Menschen, denen die Hoffnung fehlte ... aber ich tat es auch für mich. Meine eigene kleine Therapie.

Ich spürte unerwartet die warme Nässe an meiner Hand und sah automatisch hin. Sie war voller Blut. Erschrocken sah ich meine Freundin an. »Nein.« , sagte ich. Ich war nicht bereit dafür, sie gehen zu lassen.

Vincent blickte mich wieder an. Er konnte das Blut nicht sehen, aber an meiner Mimik wusste er sofort, das es so weit war. Unverzüglich steckte er sein Handy weg und kam zu mir auf den Boden, denn Engel war zusammengesunken und ich gleich mit ihr. Ich hielt sie fest, während sie schrie. Die Schmerzen waren da.

Warum musste es so ablaufen?

War sie nicht bestraft genug gewesen?

Weshalb musste sie auch das nochmal durchleben?

Ich wiegte sie in meinen Armen und heulte. Engels Körperteile zitterten immens. Ich schob ihr einen Ärmel nach oben. So viel Blut hatte ich noch nie gesehen. Der ganze Boden war voll. Meine Hände, einfach alles.

Vincent setzte sich hinter mich und gab mir Halt. Seelische Unterstützung. Er konnte es immer noch nicht sehen. Nichts davon.

Engel weinte. Ich wusste nicht, ob es der Moment war oder ihr Todes-Widerschall, der sie durchfuhr. Aber es tat mir in der Seele weh, es mitansehen zu müssen und daran zu denken, dass sie damals alleine gewesen war.

Sie legte ihre blutige Hand auf meine Wange. »Ich danke dir.« , hauchte sie.

Meine Unterlippe zitterte und ich schüttelte meinen Kopf. »Verlass mich nicht.«

»Ich liebe dich.« Das war das Letzte, was sie zu mir sagte. Ich war nicht mal in der Lage zu antworten, denn direkt nach diesen Worten löste sie sich in tausenden kleinen Lichtern auf ... und verschwand.

Sie war weg.

Alles war weg.

Ich blickte auf meine Hände und erkannte keine Spur ihres Blutes mehr. Nicht mal mehr ein Tropfen war zu sehen.

Ich zog die Beine an und heulte Rotz und Wasser. Vincent sagte nichts. Seine Anwesenheit reichte aus, so dass ich mich nicht alleine fühlte. Und dennoch verspürte ich mit ihrem kleinen Abschied augenblicklich diese Leere in mir.

Gedanklich summte ich ein Lied und hörte ihre Stimme.

~ Verlasse die Welt mit Erinnerungen. Versprich es mir. ~

Ich kann nicht sagen, wie lange Vincent und ich dort saßen. Es kam mir eine Ewigkeit vor. Er wich nicht von meiner Seite. Nicht in diesem Moment, und auch die ersten Wochen danach nicht.

Oft blickte ich aus meinem Fenster mit der Hoffnung, Engel auf der anderen Straßenseite zu sehen.

Selbst als das Haus später abgerissen wurde, war dieser Ausblick für mich ein Muss.

Es war der dunkelste und schwerste Abschnitt meines bisherigen Lebens. Mich tagtäglich aufzuraffen war eine Qual.

Erst mit der Zeit fand ich allmählich zurück in den Alltag.

Ich erinnerte mich an das Versprechen, was ich ihr gegeben hatte. Mein Leben mit Erinnerungen zu füllen, die ich ihr irgendwann erzählen konnte.

Und da gab es einiges.

Vincent und ich hatten es tatsächlich auf große Bühnen geschafft. Wir hatten Auszeichnungen erhalten. Standen mit unseren Idolen den Ärzten auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Wir haben gelacht. Geweint. Sind gereist. Waren im Fernsehen zu sehen.

Ich hatte ein Leben mit Höhen und Tiefen.

Es verlief nicht alles nach Plan, aber ich hab' es gemeistert.

So gut, wie es nur ging.

Du und ich, nur wir beideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt