Die restlichen Wochen verbrachte ich nur bei Engel.
Selbst die Schule schwänzte ich so gut, wie es nur ging.
Meine Mutter war zwischenzeitlich in einer Nacht und Nebelaktion wiedergekommen. Ich hatte einen richtigen Schock, als sie nachts an meinem Bett stand und malte mir schon aus, es wäre ihr Geist, der mich besuchte, um Lebewohl zu sagen.
Dabei wollte sie mich einfach nur ... mitnehmen.
Sie hatte sich eine Wohnung in Hamburg besorgt und auch einen guten Job gefunden.
Ich verstand, warum sie es klammheimlich gemacht hatte. Sie hätte sonst nicht die Chance dazu bekommen. Dafür hätte Jörg gesorgt.
Das sie ihr Handy nicht dabeigehabt hatte, um mich zu informieren, hatte ihr Tag für Tag ein schlechtes Gewissen verbreitet. Sie hatte mal überlegt, mir zu schreiben, aber hatte Panik, dass Jörg die Post abfangen würde.
Ich war ihr keineswegs böse darüber. Schließlich bin ich dem Idioten ja eh so gut, wie es nur möglich war, aus dem Weg gegangen.
Sie war ein wenig traurig über die Tatsache, dass ich nicht mitwollte. Aber sie respektierte es. Mein Leben war hier.
Irgendwie hätte ich ihr gerne noch Engel vorgestellt. Doch natürlich war das nicht möglich. Und zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt war mir das auch nicht so Recht ihr davon zu erzählen. Ich wollte, dass sie ohne große Sorgen ging, und ihr neues Leben in Frieden startete.
Vincent hatte ich jedoch öfters mal mitgenommen. Er konnte sie zwar nicht sehen und hören, aber ich war dafür der Dolmetscher, wenn man es genau nahm.
Ich bemerkte, dass auch diese Kleinigkeit Engel guttat.
Ich hatte ihr all das gegeben, was ihr im Leben gefehlt hatte.
Freundschaft, Liebe ... und Licht.
Und obwohl ich mich einigermaßen damit abgefunden hatte, war es doch Tag für Tag schlimmer für mich, umso mehr sich der 12. Oktober näherte.
Ich ließ es mir nicht anmerken. Nicht bei Vincent. Und auch nicht bei Engel.
Am liebsten wäre ich sogar nachts bei ihr geblieben, doch das wollte sie nicht. Sie schlief nämlich nie und wollte nicht, dass ich zwanghaft versuchen würde, wach zu bleiben.
Was ich mit Sicherheit auch versucht hätte. Ich kannte mich schließlich selbst gut genug.
Die Wunden, die sie sich zugefügt hatte, wurden von Tag zu Tag schlimmer. Teilweise begannen sie sogar zu bluten. Was seltsam war, da sie nicht mal mehr Lebenssaft in sich hatte, immerhin schlug ihr Herz nicht.
Renate hatte mir erzählt, nachdem ich sie abermals besucht hatte, dass Engel ein Todes-Widerschall durchlaufen würde. Sie würde quasi ... nochmal rückwirkend ihren Tod erleben. Ich fand das grausam. Und es war noch schlimmer es mitanzusehen, weil ich ihre Angst regelrecht spüren konnte.
Es war einfach schlimm, zu wissen, dass sie sich daraus nicht befreien konnte. Das ich ihr nicht helfen konnte.
Ich konnte umstandslos nur doof rumstehen. Es war, als würde man dabei zusehen, wie jemand sich auf die Gleise legte, während der Zug bereits zu sehen war.
Und das zerfraß mich innerlich.
Es füllte mich mit einer Traurigkeit, die ich bisher noch nie erlebt hatte. Und die Panik in mir wuchs an, dass es schlimmer werden würde.
Was sollte ich dann tun?
Was war, wenn ich unter der Voraussetzung diesen Schmerz nicht aushalten könnte?
Es klopfte an der Badezimmertüre. »Ey wie lange brauchst du noch?« , fragte Vincent.
Ich saß mit Klamotten unter der Dusche und war nicht in der Lage zu sprechen. Das mordskalte Wasser prasselte auf mich.
Wie bereits erwähnt hatte mein Therapeut mir vorgeschlagen, dass Kälte gegen das Verlangen des Schmerzes helfen könnte.
Irgendwie hatte ich für den Moment gedacht, dass eine eiskalte Dusche eine doppelte Wirkung hervorbringen würde.
Vincent öffnete einfach die Türe und drehte panisch das Wasser aus. »Spinnst du?« , herrschte er mich an. »Was ist denn los mit dir?«
Er versuchte mir hochzuhelfen, während meine Zähne klapperten. »I-i-i-i-ich b-b-b-b-b-brauch-ch-ch-te d-d-d-d-das.«
»Nein.«, sagte er und probierte meine nasse Kleidung, die an meiner Haut klebte, auszuziehen. »Ich habe dir gesagt, du sollst mit mir reden. Denkst du echt, ich bekomme nicht mit, wie es dir geht? Ich schlafe seit drei Tagen wieder hier bei dir. Meinst du, das mache ich ohne Grund?« Er justierte mir ein Handtuch um die Hüften. »Zieh' deine Buxe aus.« , forderte er mich herrisch auf, während er mit einem weiteren Frotteehandtuch über meinen Oberkörper rubbelte.
So gut, wie es nur ging, stellte ich den Versuch an mich untenrum ebenso von der nassen Kleidung zu befreien und begann zu heulen. Es kam ganz natürlich unkontrolliert aus mir heraus. Vincent umarmte mich so feste, als würde er damit alles reparieren können, was in mir kaputt war. Aber genau das benötigte ich in einfachen Worten in diesem Moment. Diesen festen Griff, aus dem ich mich nicht herausboxen konnte. »Ich bin da für dich. Lass es raus.« Und das ließ ich auch. Ich sank zu Boden, weiterhin in seiner Umarmung, und mit ihm gemeinsam, und zerfloss in Tränen. »Es ist okay. Du musst nicht immer funktionieren Dag.«
Diesen Satz hat er mir in all den Jahren mehrmals gesagt und ... es half mir.
Immer wenn ich ein seelisches Tief hatte, sagte er mir, wie okay es war zu fühlen. Oder in meinem Fall, zu viel zu verspüren.
Ich war mehr als froh, dass ich Vincent hatte. Jemanden, der einen verstand. Der für einen da war.
Denn es ist noch tausendfach schlimmer, wenn man von Menschen umgeben ist, die sich nicht hineinversetzen können in diese Lage. Personen, die davon ausgehen, man hätte einen Schalter den man an- und ausstellen könnte nach Belieben. Als wäre es nicht echt. Als würde man so etwas nur simulieren.
Mein bester Freund auf Lebzeiten hatte immer gemerkt, wann es mir scheiße ging. Selbst wenn ich meine Clownsmaske trug, um jedem ein wenig vorzugaukeln, wie toll ich doch funktionierte.
Nach einiger Zeit konnte Vincent sogar die Vorboten erkennen, bevor so ein Tief mich hinunterzog, und er tat alles Mögliche, das ich nicht komplett den Halt verlor.
Er war das Beste, was mir je im Leben hätte passieren können.
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Du und ich, nur wir beide
FanfictionTriggerwarnung: SVV, Suizid Dag weiß nichts über das Mädchen, welches ihn seit seinem Einzug ständig aus dem Haus gegenüber beobachtet. Engel lebt komplett zurückgezogen und vermeidet jeglichen Kontakt mit anderen. Langsam und behutsam gelingt es i...