Zukunft
Die beiden Krankenschwestern sehen mich voller Neugier an.
Natürlich habe ich ihnen eine abgeschwächte Version davon erzählt. Sie haben bestimmt nicht vorgehabt es detailliert zu hören. Zudem sitzt meine Mutter nebenan und lauschte ebenso.
»... und so in etwa ist unsere erste gemeinsame Nacht abgelaufen.« , sage ich. »Ich blieb danach noch eine Weile bei ihr, bis sie meinte, das ich jetzt besser gehen sollte.«
»War sie deswegen nicht zu Hause gewesen?« , fragt Alana.
»Weswegen?«
»Sie sagten, die Narben waren frisch.«
»Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Das Vincent sie nicht vorgefunden hatte, war aufgrund einer anderen Sache.«
»Sie wussten also ab diesen Tag, das sie sehr labil war?!« Ich nicke mit halber Kraft. »Sie hätten vielleicht bei ihr bleiben sollen. Sie haben alleine gelebt und ... also das soll wirklich kein Vorwurf sein, aber ich denke, im Nachhinein sieht man die Dinge anders.«
»Selbst wenn ich bei ihr eingezogen wäre, hätte es nichts geändert.«
»Sie waren ihr Licht.« , spricht Melody. »Ich find' das eine schöne Aussage. Auch wenn Sie ihr nicht helfen konnten, haben Sie ihr eine Zeitlang Wärme gespendet. Und das ist entscheidend.« Sie streichelt über ihre Arme. Nur kurz, aber ich nehme es wahr. Ihre eigenen Narben habe ich schon früh bemerkt. Vielleicht mag ich sie deswegen am liebsten, weil ich weiß, wie verletzlich sie innerlich ist.
Trotzdem muss ich ein wenig lächeln über ihre Aussage. Es erinnert mich an das, was Engel zu mir sagte, ehe ich sie verlor.
»Sie war suizidgefährdet. Wieso hat ihre Familie sie ... allein gelassen?« Alana fragt weiter. »So etwas macht mich sauer. Wenn sie die Narben hatte, muss sie auch im Krankenhaus gewesen sein. Sie musste doch behandelt werden. Versorgt. Sie verstehen? Also, ihr muss ja jemand geholfen haben.«
»War es vielleicht zu viel?« , gibt Melody von sich. »Möglicherweise waren alle überfordert und deshalb ... hat man sie sich selbst überlassen.«
»Das ist Schwachsinn.« , feuert ihre Kollegin und Freundin los. »Wenn sie im Krankenhaus war, muss sie danach auch eine therapeutische Behandlung gehabt haben. Sie hat bestimmt nicht erzählt, dass sie in ein Messer mit ausgestreckten Armen gefallen ist. Und selbst bei so einer Aussage, hätte eine Therapie erfolgen müssen, um den Wahrheitsgehalt dessen zu überprüfen.«
»War sie in Therapie?« , fragt Melody mich.
Ich schüttle meinen Kopf. »Nein. Nie.«
Beide runzeln die Stirn. »Wieso?«
»Weil es damals noch nicht so ... Standard war.«
»Anfang 2000?« Alanas skeptischer Blick bleibt, als sie mich betrachtet. »Das stimmt aber nicht. Sie haben eben selbst erzählt, dass sie zu der Zeit in Therapie waren.«
»Ja, aber ... bei ihr war es anders.«
»War sie denn die, die sie vorgab zu sein?« , fragt Melody. »Oder hatte ihr bester Freund mit seiner Vermutung Recht, das sie ... obdachlos war?«
»In der Zeitung stand Ferber.« , beantwortet Alana es. »Erinnerst du dich?«
»Ach ja. Also war sie die Tochter des Hausbesitzers?«
Ich nicke.
»Sind Sie sauer auf Engel gewesen? Weil sie ... ihr Versprechen nicht gehalten hat?« Melody sieht mich mitfühlend an.
Ich schüttle meinen Kopf. »Sie hat mich im Grunde nicht belogen. Sie hat es nicht nochmal getan.«
»Oh. Okay.« , sagen beide im Chor, obwohl ich mir mehr als sicher bin, das sie mich nicht verstanden haben.
Ein wenig lässt mich das daran erinnern, wie sehr Engel immer in Rätsel gesprochen hat.
Meine Mutter lächelt mir zu. Sie weiß natürlich, wovon ich spreche. Auch wenn ich es ihr viel später erst erzählt habe.
Ich lächle zurück und Melody folgt meinem Blick. »Wollen Sie, das wir Sie jetzt lieber alleine lassen?«
Ich drehe meinen Kopf wieder in ihre Richtung. »Sollen wir es beenden?«
Tick tack. Tick tack.
Sie lacht. »Nein, also wenn ich das sage, dürfen Sie das nicht so auffassen, als ob wir nicht gerne zuhören würden. Ich würde liebend gerne die komplette Geschichte wissen. Aber ich möchte Ihnen auch nicht ... zu viel zumuten.«
»Was gibt es Schöneres, als am Ende nochmal an die Vergangenheit zu denken?«
»Aber haben Sie wirklich nie darüber nachgedacht, was Sie hätten anders machen können?«
Ich schüttle meinen Kopf. Es stimmt nämlich. Ich war traurig. Innerlich zerrissen. Am Boden. »Zu keinem Zeitpunkt hätte ich es ändern können.« , sage ich abermals. Ich kann verstehen, dass es schwer ist dies ohne jegliche Hintergründe begreiflich zu verpacken.
»War sie alleine? Als sie es getan hat?«
»Ja und Nein.« , antworte ich. Wieder in Engel-Manier.
»Waren Sie bei ihr?« , hakt Alana nach, deren Augenbrauen sich bei fast jedem Satz, den ich von mir gebe, mehr und mehr zusammenziehen.
»Ich war nicht da, als sie es getan hat. Aber ich war bei ihr, als sie ging.« Es ist die richtige Antwort. Zutreffender hätte ich es nicht formulieren können.
»Es muss sehr hart gewesen sein.«
Ich nicke. »Ja das war es.«
»War es ... in dem Haus? Ich meine, sie ist ja nirgendwo hingegangen, außer bisher das eine Mal, wo sie im Krankenhaus waren.«
»Ja, es war im Haus.«
»Dürfte ich Sie etwas fragen?« Melody rückt zum wiederholten Male näher mit ihrem Stuhl.
»Klar natürlich.« Ich greife nach meinem Wasser. Meine Hand zittert richtig. Wer hätte gedacht, dass ein normales Glas mal so schwer sein würde.
»Falls Sie nicht antworten wollen, verstehe ich das, aber ... ich würde gerne wissen, wie sie sich das Leben genommen hat.«
Ich tätige einen kurzen Schluck. Mein Mund ist richtig trocken geworden vom erzählen.
Alana hilft mir, das Glas wieder auf einen festen Boden zu stellen.
»Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.« , antworte ich.
Da ist der Blick, den ich bei beiden erwartet habe.
»Aber ... das Versprechen. Sie sagten, sie hätte es nicht gebrochen.«
»Ich weiß.« , sage ich. »Ich weiß.«
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Du und ich, nur wir beide
FanfictionTriggerwarnung: SVV, Suizid Dag weiß nichts über das Mädchen, welches ihn seit seinem Einzug ständig aus dem Haus gegenüber beobachtet. Engel lebt komplett zurückgezogen und vermeidet jeglichen Kontakt mit anderen. Langsam und behutsam gelingt es i...