ᴱᴾᴵᴸᴼᴳ

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Zukunft

Melody blickt mich mit Tränen in den Augen an. Sie ist sehr emotional. Das habe ich bereits vorher gemerkt, als vor ein paar Tagen ein Vogel auf dem Gesims meines Fensters gestorben ist und sie darüber so stark weinte, als wäre es ein Familienmitglied gewesen.

»Es tut mir leid, was Sie ... mitansehen mussten.« , sprach Alana voller Mitgefühl.

Ich habe bereits während meiner Erzählung gemerkt, dass sie mir nicht glauben. Was auch okay ist. Das müssen sie nicht.

Beide denken es ist ein Schutzmechanismus, den ich mir selbst auferlegt habe um den Selbstmord meiner Freundin besser verarbeiten zu können.

Ob ich es wahrlich gesehen habe, spielt keine Rolle.

»Verlasse die Welt mit Erinnerungen.« , spricht Melody leise und lächelt. »Ich finde diesen Leitsatz sehr schön.«

»Ja. Ich auch.« , gebe ich von mir.

Die Türe öffnet sich, als die andere Krankenschwester aufs Neue ins Innere tritt um nach mir zu sehen. Ihr Blick fällt selbstverständlich sofort auf die Zwei, die heimlich wieder hergekommen sind. »Herr Kopplin wollte doch alleine sein. Und die Besuchszeit ist auch um. Das solltet ihr wissen.«

»Es tut uns leid. Wir wollten ... nur das Ende noch erfahren.«

Tick tack. Tick tack.

Es ist das Ende. Ich spüre es.

Melody kommt zu mir und umarmt mich dieses Mal. »Ich danke Ihnen.« Es tut mir gut zu hören, dass ich ihr irgendwie geholfen habe. Und wenn es nur für den Moment ist. Aber manchmal reicht das aus.

Alana kommt nun ebenfalls zu mir und legt ihre Hand auf meine. »Ich wünsche Ihnen, das Sie Engel wiedersehen. Sie wird sich freuen, alles über Ihr Leben zu erfahren.«

Ich lächle sie an.

Als sie das Zimmer wiederkehrend verlassen, überprüft die andere Krankenschwester nochmals meine Werte. Dann sieht sich mich lange an. »Sie wollen alleine sein?«

Ich nicke, wie gehabt.

Sie tätigt dieselbe Bewegung und lächelt wiederum kurz. Anschließend begibt sie sich ebenfalls aus dem Raum hinaus.

»Du hast gelebt.« So viele Jahre habe ich ihre Stimme nicht gehört und doch erkenne ich sie sofort.

Mit Tränen in den Augen blicke ich Engel an, die näher an mein Bett tritt und sich schließlich zu mir setzt und meine Hand nimmt.

»Ja. Das habe ich.«

Sie sieht zu Vincent und meiner Mutter rüber und runzelt die Stirn. »Du hast nicht geliebt?«

Ich schüttle meinen Kopf. »Nicht auf die Art.«

Mir ist klar, dass sie das nicht für mich gewollt hat. Und dennoch konnte ich nach ihr keine Frau mehr auf diese Art und Weise an mich heranlassen. Ich habe Frauen gehabt, so war es nicht ... aber geliebt habe ich immer nur die eine, die mich zu früh verlassen hat.

»Das war dumm und töricht von dir.« , sagt sie.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« , antworte ich.

Sie streichelt über mein Gesicht. »Wie war dein Leben?«

»Voll mit guten und einigen nicht so guten Erinnerungen.« , sage ich. »Ich habe mein Leben gelebt ... bin gelegentlich voll gegen die Wand gebrettert, aber ... ich hab's durchgezogen.«

»Hattest du noch Träume, die du nicht erreicht hast?«

»Man hört irgendwie nie damit auf. Aber das Leben ist ... einfach so, wie es ist. Dinge passieren, oder sie passieren nicht. Du ergreifst Chancen ... oder nicht.« Ich bemerke einen kurzen Schmerz und ein Stolpern meines Herzens, als ich spreche. Ich bin müde. Extrem müde.

Ich sehe gedanklich viele Erinnerungen.

Meine Großeltern.

Ich als kleines Kind, das ein Eis entgegennimmt, was meine Mutter mir mit einem Lächeln reicht.

Der Moment, wo mir Vincent bekannt gemacht wurde.

Der Tag, als wir beide das erste Mal gemeinsam Musik gemacht haben.

Meine Mutter, die mich aus Spaß mit einer Wasserpistole nassspritzt, als ich mal morgens nicht aus dem Bett kam.

Der Tag als ich Engel das erste Mal traf.

Unser erster Kuss.

Unser erstes Mal.

Wie wir kuschelnd im Atelier auf der Couch lagen.

Ich sehe mich mit Vincent auf der Bühne ... im Studio ... wie wir Spaß haben.

Wie wir auf Festivals herumalbern.

Ich erkenne mich heulend bei Sing meinen Song, weil mich damals einige Emotionen auf einmal trafen.

Vincent, der mich umarmt. In sämtlichen Variationen, da es einfach zu viele Momente gab.

Seine Hochzeit.

Ich spüre das glückliche Gefühl, das mich damals übermannt hat, ihn so happy zu sehen.

»Du hast es geschafft!?« , kommt von Engel, als würde sie meilenweit entfernt reden. Sie lächelt. Ich erkenne es trotz, dass irgendwie alles um mich herum schwindet.

Mein Blick fällt seitlich hin zu Vincent, der für mich antwortet, nachdem ich allein wahrnehme, dass meine Stimme unerwartet nicht mehr vorhanden ist und meine Atmung versagt. »Wir haben die Bühne gerockt.« , sagt er. »Und jetzt das Jenseits.«

Ich will gerne antworten. Aber kann es nicht. Ich kann mich nicht mal mehr bewegen.

Es geht so schnell und plötzlich sehe ich mich selbst in dem Krankenhausbett liegen. Irritiert blicke ich an mir hinunter. Ich betrachte meine Hände. Untätowiert und ... jung.

Engel dreht sich zu mir um. »Hallo.« , sagt sie und steht auf, ehe sie mir um den Hals fällt.

»Hallo.« , erklingt meine jüngere Stimme.

Es ist ein seltsames Gefühl, mich da liegen zu sehen und zu wissen, das es vorbei ist.

Vincent und meine Mutter umarmen mich nun ebenso.

Was mich auf der anderen Seite erwartet, das weiß ich nicht.

Ich bin mir nur im Klaren darüber, dass mich Liebe empfangen hat.

Die meiner Familie. Meiner Freundschaft. Und dem Mädchen meines Herzens.





Ich hoffe mal, dass euch diese Geschichte gefallen hat. Auch wenn diese etwas anders war, als die anderen von mir.

Hier noch ein paar Worte.

Selbstmord beendet nicht die Möglichkeit, dass das Leben schlechter wird, sondern die Möglichkeit, dass es jemals besser wird.

Wenn das Empfinden so verdunkelt ist, dann kann es schwer sein, an eine lichterfüllte und glückliche Zukunft zu glauben, aber es kann - und wird oft - besser werden.

Man sollte niemals aufgeben. Egal, wie dunkel es in dem Moment erscheint.

Zu keinem Zeitpunkt das Licht vergessen. Auch wenn es nur eine kleine Flamme ist.

Du und ich, nur wir beideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt