Kapitel 22

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Adela

Im Gegensatz zu den vorangegangenen Nächten schlafe ich heute wieder komplett durch. Kein Blut bringt mich dazu, schreiend aufzuwachen. Keine Glassplitter verfolgen mich. Kein lebloser Körper in meinen Armen bringt mich an den Rand der Verzweiflung.

Ich werde noch relativ früh wach. Von alleine, was so gut wie nie seit einem Jahr vorgekommen ist. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und erblicke meinen noch schlafenden Bruder. Dann sehe ich nach draußen, wo es stockfinster ist. Da ich schon mal so früh wach bin, beschließe ich wie letztes Mal Laufen zu gehen.

Vorsichtig winde ich mich aus dem beschützenden Griff meines Bruders. Sehr darauf bedacht, ihn nicht aus Versehen zu wecken, schleiche ich in Richtung Tür zum Badezimmer. Dort drinnen schalte ich mein Handy ein und wähle wie letztens auch schon Mikes Nummer.

„Wow! Das zweite Mal bereits. Was für eine Ehre." Sein Atem geht stoßweise.

„Dir auch einen guten Morgen.", entgegne ich in gedämpfter Lautstärke. „Was machst du gerade?", komme ich auf mein eigentliches Anliegen zurück.

„Trainieren." Ich kann sein Grinsen vor meinem inneren Auge deutlich sehen. Er gibt sich nicht einmal Mühe, es vor mir zu verbergen, als er spricht, weil ich es auch aus seiner Stimme raus höre. Ich vernehme auf seiner Seite Schlüssel klappern.

„Kommst du wieder mit Laufen?"

„Habe soeben die Schuhe angezogen. Sei in zehn Minuten bereit."

„Danke." Ich grinse in mich hinein. Wir legen auf und ich gehe wieder leise in mein Zimmer.

Ich öffne meinen Kleiderschrank. Von dort nehme ich mir meine Sportsachen raus. Bei den Geräuschen fängt Alex an, sich in meinem Bett zu bewegen. Hastig gehe ich zu ihm hin und setze mich neben ihn.

„Adela?" Er klingt noch total verschlafen. Im Halbschlaf blinzelt er, um mich zu erkennen, aber lässt es dann doch sein.

„Ja. Ich bin's. Ich bin mit Mike Joggen. Schlaf weiter." Ich streiche ihm die welligen Haare aus der Stirn. „Es ist erst halb sechs.", füge ich lächelnd hinzu.

„Viel Spaß." Er lächelt leicht, dann dreht er sich weg und vergäbt sein Gesicht in meinem Kissen. Nach noch nicht mal einer Sekunde schläft er wieder tief und fest.

Grinsend schüttele ich den Kopf, hole mir den Pulli, den ich mir vor langer Zeit von Alex geschnorrt habe und ziehe ihn mir über. Als nächstes ziehe ich meine schwarze Sporthose an und gehe extrem leise runter.

Im Flur überprüfe ich noch meinen hohen Zopf. Dort sehe ich außerdem noch Mamas Tasche, woraus ich schließe, sie ist zu Hause. Schnell schlüpfe ich in meine Laufschuhe und ziehe so geräuschlos wie möglich die Türe hinter mir ins Schloss.

„Hi, Mike." Er steht unten, weshalb ich die Stufen runter gehe.

„Hey, Kleines." Ich nehme ihn nun genauer in Augenschein. Er trägt einen roten Pullover und schwarze Hosen. Seine Kopfhörer baumeln ihm bis jetzt noch lose um die Schultern.

„Du siehst gut aus.", merke ich an. Ein schelmisches Grinsen breitet sich auf seinem spärlich beleuchteten Gesicht aus. „Wollen wir los?" Ohne seine Antwort abzuwarten schiebe ich mir die Kopfhörer über die Ohren und sehe ihn erwartungsvoll an. Mike nickt. Er tut es mir gleich und wir laufen los.

Das Gefühl ist wie jedes Mal berauschend. Die kühle Luft peitscht mir ins Gesicht, doch mir ist nicht kalt. Im Gegenteil. Mein Körper ist erhitzt. Ich habe das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen. Meine Beine schmerzen, aber ich zwinge mich, weiter zu laufen. Ich werde nicht aufgeben. Die letzten paar Meter sprinten Mike und ich zu meinem Haus. Ich gebe meine ganzen Reserven in diesen letzten Sprint bis vor meine Haustür und komme noch eher an als Mike.

Not you. Please.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt