20. Kapitel

339 29 0
                                    

Durch eine ovale Öffnung in der Kuppel des Altarraums war der orangerote Abendhimmel zu sehen. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen herein und ergossen ihr goldenes Licht auf die alabasterverkleideten Säulen, die in einem Kreis platziert die massive Decke stützten. Den Kopf in den Nacken geleckt, blickte Saga hinauf ins steinerne Antlitz der hohen Mutter, die Schutzpatronin der Frauen und Kinder. Aus feinstem Marmor aus den Mienen des Sommer Archipels gefertigt, das hüftlange Haar vergoldet und zu einer eleganten Zopfkrone gemeißelt, starrte die Göttin mit blinden Augen von ihrer Empore auf die Anwesenden Menschen nieder.

Das beklemmende Gefühl unerwünscht zu sein beschlich die Prinzessin. Woher die Sorge kam wusste sie nicht, womöglich lag es an der Tatsache, dass sie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr hier gewesen war und das Allerheiligste ihres Reiches mit Gleichgültigkeit bestraft hatte. Oder aber es kam daher, dass die Götze des Herrn des Lebens, Schützer der Männer und deren Nachkommen, durch das Spiel aus Licht und Schatten außergewöhnlich lebensecht wirkte. Parallel zu seinem weiblichen Gegenstück saß er auf einem steinernen Stuhl im Zentrum des Raums, sein Körper ragte bis unter die kuppelförmige Decke, die schulterlangen Haare aus weißem Marmor, dieselben schneidigen Gesichtszüge. Nur das Lodern seiner ungleichen Augen fehlte. Saga versuchte die Skulptur nicht allzu oft anzusehen.

Im Schatten der Säulen erhoben sich Gestalten aus der staubigen Dunkelheit, Statuen aus Stein, wesentlich kleiner als die von Herr Orpheus und Galatea. Saga nahm keinerlei Notiz von ihnen, ihre Aufmerksamkeit galt allein der steinernen Schönheit und dem klaffenden Loch in ihrem aufgerissenen Mund. Wie ein Berglöwe, zum tödlichen Sprung bereit, war ein ewiges Fauchen in ihr zornverzerrtes Gesicht gemeißelt worden.

„Die Götter unterliegen den Gesetzen der Natur. Um zu geben, müssen sie erst nehmen." Erklang die Stimme der alten Hohepriesterin nahe an Sagas Ohr. Diese zuckte erschrocken zusammen und zwang sich den Blick von der Göttin zu nehmen. Ihre Augen wanderten über die ernste Miene der Alten und blieb am Gegenstand hängen, den sie ihr schweigend hinhielt. Im schummrigen Licht der Fackeln an den Wänden glänzte das kalte Metall wie flüssiges Silber.

„Natürlich." Murmelte Saga und nahm den Dolch entgegen. Der Griff war aus schwarzem Ebenholz gefertigt, goldene Symbole waren nahe des Schafts in die Klinge eingraviert. Sie löste die Broschennadel, die ihren Reiseumhang an der Brust zusammenhielt und krempelte den linken Ärmel ihres Kleids hoch.

Jetzt fällt mir wieder ein, weshalb ich so lange nicht mehr hierhergekommen bin, schoss es ihr bitter durch den Kopf. Sie trat in die Mitte des Raums, zu einem in den Boden eingelassenes Steinbassin, von dem aus zwei tiefe Einkerbungen im Boden zu den Götterstatuen verliefen. Die Hohepriesterin betätigte einen in der Wand eingelassenen Schalter nahe des Eingangs, den Saga bis dahin nicht bemerkt hatte und wie durch Zauberhand füllte sich das Becken mit klarem Quellwasser.

„Trinken Sie, Prinzessin. Es wird die Auswirkung des Blutverlustes eindämmen." Sprach die Alte. Saga tat wie ihr geheißen. Sie kniete sich hin, hielt sich den Zopf aus dem Gesicht und nahm einen großen Schluck aus der Einsenkung.

„Ich bitte Sie, Eure Hoheit!" Eine starke Hand legte sich auf Sagas Rücken. „Lassen Sie es mich an Ihrer Stelle tun! Der Hofarzt sagt, Sie leiden ohnehin bereits an schwachem Blut." Das Herz schlug ihr bis zum Hals, nur zu gern hätte sie eingewilligt. „Ist das..." Sie verzog das Gesicht und wischte sich mit dem Handrücken über die Zunge. „Ist das Salzwasser?" Verlangte sie von der Frau zu wissen. Diese nickte nur. „Blut und Salz sind Geschwister, Kind. Das eine wirkt nicht ohne das andere."

Die Nase skeptisch gekräuselt, beugte Saga sich erneut hinunter und nahm vorsichtig einen weiteren Schluck.

„Hoheit?"

Der Vampir der HerzoginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt